Maurice, Justine, Schriftsteller (1810-1849). Eigenh. Brief mit U. ("J. Maurice").

St. Petersburg, [8. IV. 1841].

3 SS. auf Doppelblatt. Gr.-8vo. Mit eh. Adresse (Faltbrief).

 3.500,00

Sehr gehaltvoller privater Brief von Maurice an den Philosophen und Schriftsteller Pierre-Simon Ballanche. Maurice, der damals für mehrere Jahre als Erzieher der Kinder des russischen Großfürsten Michael Pawlowitsch Romanow (1798-1849) in Petersburg weilte, schildert sehr eindringlich seine Einsamkeit im kalten Petersburg, wo er unter dem langen Winter, vor allem aber unter der Isolation und der intellektuell wenig fruchtbaren Umgebung leide: "[…] Grace au ciel je me porte bien. En fait de maladie depuis mon entrée sur le territoire russe je n'ai éprouvé qu'une assez violente nostalgie qui me tourmente depuis un mois, ou deux, et me plonge dans un allanguissement que je ne puis surmonter. Tout travail m'est impossible, à peine si le courage me reste pour donner mes leçons et lire un peu. C'est qu'aussi l'hiver est ici bien long. Il n'y a que trois jours que la Névà a brisé ses glaces et bien des rives de la ville sont encore couvertes d'une épaisse couche de glace que l'on casse à grands coups de hache. Les canaux qui traversent la ville […] sont encore couverts d'une glace qui n'a pas moins d'un mètre d'épaisseur. Pas une feuille encore, pas un brin d'herbe, et cependant le ciel est presque toujours paré de ce froid soleil qui n'est là sans doute que pour éclairer et se faire moquer de lui, il est presque aussi froid que chez nous la lune.Les jours commencent à être très longs. Avant quatre heure déjà le soleil est levé et à neuf heures du soir il est encore grand jour […]".

Nur die Güte der Großfürstin (d. i. Elena Pawlowna) halte ihn hier ("je n'aime ici person et si ce n'etait la bonte de Madame la Gd. D[uch]esse, je n'y resterais").

Höchst interessant sind auch Maurices Äußerungen zu den erneut gescheiterten Asprirationen Ballanches auf einen Sitz in der Académie française. Ballanche, der mehrfach für einen Sitz kandidiert hatte, jedoch u. a. gegen Victor Hugo unterlag, sollte erst im Folgejahr 1842 Akademiemitglied werden. Nach dem Tod des konservativen Philosophen Louis-Gabriel de Bonald (1754-1840) hat Ballanche für dessen Sitz kandidiert, mußte sich letztendlich aber dem Dramatiker Jacques Ancelot (1794-1854) geschlagen geben, der am 25. Februar 1841 gewählt wurde. Maurices' Kommentar läßt erkennen, daß er wenig hielt von Bonald und Ancelot, dem er die Lektüre der gegenüber Bonald sehr kritischen Literaturgeschichte von Marie-Joseph Chenier (1764-1811) nahelegt. Daß Ancelot und nicht Ballanche den Akademiensitz erhalten habe, bedauere er zutiefst, wie im übrigen auch Barante (Amable Prosper de Barante, 1782-1866, französischer Botschafter in Petersburg und seit 1828 Akademiemitglied).

Auch um das Wohlergehen seiner alten Freundin und Gönnerin, der Salondame und Literatin Julie Recamier (1777-1849) zeigt Maurice sich besorgt. Er wünscht ihr beste Gesundheit und hofft, daß sie nicht auch durch die Affäre Lehon Schaden genommen habe.

Jacques Francois Lehon, ein angesehener und vielbeschäftiger Pariser Notar, der nebenbei eine Bank betrieb, ging 1841 bankrott, hinterließ eine Schuldenlast von bis zu 7 Millionen Francs und verursachte damit einen der größten Pariser Finanzskandale des 19. Jahrhunderts. Wie wir nun von Maurice erfahren, scheint auch Julie Recamier Einlagen bei Lehon gehabt zu haben. Weiterhin erwähnt Maurice Mme. d'Hautefeuille (Anne-Albe Cornelie de Beaurepaire, Comtesse Charles d'Hautefeuille, 1789-1862), deren 'Jeanne d'Arc' er gerne lesen würde, sendet Grüße an "tous ceux de l'abbaye" (L'Abbaye-aux-Bois, ehemaliger Pariser Zisterzienser-Konvent in der rue de Sevres, wo Mme. Recamier zwischen 1819 und 1849 wohnte und ihre berühmten Salonzusammenkünfte abhielt), insbesondere, an Mme. Lenormant (Amelie Cyvoct, 1803-1893, Nichte und Adoptivtochter von Julie Recamier), Mr. Ampere (Jean-Jacques, 1800-1864) und Mr. David (Paul-Jacques, 1778-1860, Neffe von Julie Recamier) - Justin Maurice (1810-1849), gebürtig aus dem Agenais, war in Paris als Journalist und Schriftsteller tätig. Seine seinerzeit vielbeachteten Gedichtsammlungen "Pensees du Ciel et de la Solitude" (1833) und "Au pied de la Croix" (1835) brachten ihm enge freundschaftliche Beziehungen mit dem Gelehrten- und Literatenkreis um Julie Recamier ein. Insbesondere in dem Philosophen Pierre-Simon Ballanche (1776-1847) fand er einen väterlichen Freund und Gönner. Ballanche war von Maurices' schriftstellerischem Talent sehr angetan, hielt aber seine Energie nicht für ausreichend, um die notwendige Erneuerung der französischen Lyrik zu schaffen und ein "Savonarole en poesie" zu werden, wie Frankreich ihn jetzt benötige (Brief an Mme. d'Hautefeuille, ed. Marquiset 158f.). Die ständigen Geldnöte von Maurice, der sich von Ballanche immer wieder Geld leihen mußte, endeten 1840, als der junge Literat in die Dienste des russischen Großfürsten Michael Pawlowitsch Romanow trat. Dessen Gattin, Großfürstin Elena Pawlowna, geb. Charlotte von Württemberg (1807-1873), die als außergewöhnlich intelligent galt, wirkte in Petersburg als Mäzenin. Sie gründete das dortige Konservatorium und unterhielt Künstler wie Anton Rubinstein an ihrem Hof. Da sie selbst in Paris - u. a von Georges Cuvier - erzogen worden war, verpflichtete sie für die Erziehung ihrer Kinder mit Justin Maurice eine wichtige Figur des Pariser Gelehrtenmilieus. Maurice, der die Großfürstin in Wiesbaden traf und in ihrem Gefolge im November 1840 nach Petersburg reiste, empfand die folgenden fünf Jahre, während derer er in russischen Diensten blieb, wie ein Exil. Sehr drastisch bringt Maurice seine bitteren Erfahrungen in einem vom 9. Mai 1841 datierenden Brief an Ballanche (Paris, Bibliotheque Nationale, Naf 14092) zum Ausdruck, in dem er den russischen Autoritarismus, die Sklavenmentalität der Untertanen und die völlige Militarisierung der dortigen Gesellschaft heftig kritisiert. Rußland sei ein Feldlager, St. Petersburg eine Kaserne ("La Russie n'est qu'un camp. Saint-Petersbourg une caserne et une ecole militaire."). Diese offene Kritik von Maurice war nur möglich, weil er die russische Zensur umging. Im vorliegenden Brief vom April 1841 teilt Maurice Ballanche mit, daß er ihm bereits seit zwei Monate damit durch einen Landsmann einen Brief überbringen lassen will, da sich dessen Abreise jedoch ständig weiter verzögere, schickte er den Brief per Post. Da diese von den russischen Sicherheitsbehörden kontrolliert wurde, ist seine Kritik an Rußland deutlich gemäßigter als in jenem Botenbrief des Folgemonats, der heute in der Pariser Nationalbibliothek verwahrt wird. Es scheint, daß Ballanche beide Briefe von Maurice gleichzeitig im Juni 1841 empfangen hat ("J'ai recu, a la fois deux lettres de Justin Maurice qui me dit tout ce qu'il est possible de dire au sujet de ses amis", Brief an Mme. d'Hautefeuille vom 16. Juni 1841, ed. Marquiset 186).

Seine Erfahrungen wollte Maurice nach seiner Rückkehr in "La Russie en 1845" verarbeiten, das aber krankheitsbedingt unvollendet blieb. In Paris wurde er damals Herausgeber der Zeitschrift "L'Ere nouvelle" und gab sich Träumen der Gründung eines journalistischen Bruderordens hin, sein früher Tod im Jahr 1849 verhinderte jedoch, daß er seine Ideen weiter vorantreiben konnte.

Lit.: Alfred Marquiset, Ballanche et Mme D'Hautefeuille. Lettres inedites de Ballanche, Chateaubriand, Sainte-Beuve, Mme Recamier, Mme Swetchine, etc., Paris 1912; Agnes Kettler Lettres de Ballanche a Madame Recamier 1812-1845, Paris 1996.

Bl. 2 mit stärkeren Läsuren am rechten Rand (Textverlust in einigen Zeilen).

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