"Thesen gut, Politik schlecht"

Trotzki, Leo, Politiker und Revolutionär (1879-1940). 13 Briefe mit eigenh. U. und Empfehlungsformel und 5 Briefe mit eh. U. (davon 1 Paraphe).

Prinkipo/Büyükada, [Frankreich und Norwegen] sowie Coyoacan, 1932-1939.

Zus. 19 SS. Folio und (gr.-)4to. In deutscher und englischer Sprache.

 58.000,00

Politische Briefe aus dem Exil an seinen Vertrauten Albert Glotzer, der zusammen mit James P. Cannon und Max Shachtman die trotzkistische Bewegung in den USA ins Leben gerufen hatte. Die Briefe setzen kurz nach einem längeren Aufenthalt Glotzers bei Trotzki in Prinkipo ein und behandeln vornehmlich die Bündelung der Kräfte der Internationalen Linken Opposition gegen Stalin in Europa und Amerika, den taktischen Umgang mit moderaten Parteien und Gruppen ("Zentristen") und die Zersplitterungstendenzen der amerikanischen Genossen; der letzte Brief betrifft die Frage einer jüdischen Staatsgründung in Palästina. 1) "[...] Die höchst krisenhafte Lage in Deutschland setzt viele Köpfe in Bewegung, und das ist für uns natürlich von grossem Nutzen. Wir bekommen immer neue und neue Verbindungen, neuen Zufluss. Ich hoffe entschieden, dass die Linke Opposition in Deutschland einen hübschen Ruck nach vorwärts macht [...]" (Prinkipo, 27. I. 1932).

2) Über "den amerikanischen Streit": "[...] Die programmatischen, taktischen Dokumente sind natürlich von grosser Wichtigkeit, aber die an den Tatsachen geprüfte Handlungsweise ist in meinen Augen viel wichtiger [...] Genosse Schachtmann meint, indem er überall diejenigen Tendenzen unterstützt, die ich für falsch und verderblich halte, mich gleichzeitig mit allgemeinen Redensarten beruhigen zu können. Zwei Jahre unterstützte er Naville und Landau [d. s. der französische Surrealist und Kommunist Pierre Naville und der österreichische Kommunist Kurt Landau] [...] obwohl nicht offen, wie es sich in politischen Fragen für einen Revolutionär ziemt [...] Wenn Genosse Schachtmann in den amerikanischen Dingen dieselben Methoden anwendet, so mögen manche seiner Thesen gut sein, aber seine Politik ist schlecht. Die Brandlerianer behaupten, Stalin irre sich nur in den internationalen Fragen, in den russischen habe er recht. Ich lehne es ab, diese doppelte Buchführung an Schachtmann anzuwenden [...] Er zieht immer vor, im Versteck zu bleiben und revolutionäre Politik durch zweifelhafte persönliche Kombinationen zu ersetzen [...]". Im Folgenden über den Vorwurf, er habe in einem Zeitungsinterview die britische Labour Party als Vorbild für eine amerikanische Arbeiterpartei dargestellt: "[...] Ich sprach über die unvermeidliche ‚Europäisierung' der amerikanischen Politik, d. h. in erster Linie über die Herausbildung einer Partei der Arbeiterklasse. Dabei habe ich selbstverständlich den Begriff dieser Partei gar nicht konkretisiert: ob eine Labour-Party, eine Sozialdemokratische oder eine Kommunistische. Darüber mich in einem Interview für ein kapitalistisches Blatt auszulassen, waren natürlich keine Gründe vorhanden [...] Dass die amerikanischen Brandlerianer daraus Kapital schlagen wollen beweist nur, dass sie, wie ihre deutschen Lehrmeister, auf dem letzten Loche pfeifen [...]"(Büyükada, 1. V. 1932).

3) Nach einem Besuch des amerikanischen Gewerkschafters Albert Weisbord in Prinkipo. "[...] Ich habe ihm mit voller Offenheit und Schärfe meine Meinung über die Ansichten und die Handlungsweise seiner Gruppe gesagt. Der Streit ging aber um prinzipielle Dinge und ich muss Ihnen [...] ganz offen sagen, die Methode Weisbords ziehe ich hundertmal der Methode Schachtmanns vor, denn Schachtmann spielt mit Ideen und kombiniert, während Weisbord es ganz ernst mit den Dingen meint [...]" (Büyükada, 3. VI. 1932).

4) "[...] Die amerikanische League braucht wirklich keine Spaltung und auch keinen permanenten inneren Kampf. Viele Symptome besagen, dass wir am Vorabend eines neuen Kapitels in der Entwicklung der Linksopposition stehen und dass dieses Kapitel viel weiter und reicher an Möglichkeiten sein wird, als alle die vorherigen. Wir dürfen jetzt nur durch eigene Unvorsichtigkeiten und Uebertreibungen nicht den Gang der eigenen Entwicklung stören [...]"(Büyükada, 4. VII. 1932).

5) Über den österreichischen Kommunisten Josef Frey, der sich den Trotzkisten angeschlossen hatte: "[...] Was die Freygruppe betrifft, so verstehe ich nur zu gut die Bedenken der amerikanischen Freunde [...] Nehmen wir theoretisch den schlimmsten Ausgang an: Frey fühlt sich wiederum unheimisch in unserer Mitte und verlässt unsere Reihen. Man kann sicher sein, dass er diesmal nicht die Gesamtheit seiner Gruppe von uns losreissen wird: dann haben wir in Oesterreich einen ausgelesenen Kern der Linksopposition [...] Eastman [d. i. der amerikanische Schriftsteller und sozialistische Aktivist Max E.] war eine Woche hier [...] Sein Verhalten der materialistischen Dialektik gegenüber entfremdet ihn im höchsten Masse unserer Weltanschauung trotz seiner aktiven politischen Sympatien für die Linksopposition. Trotz dessen, dass er die Philosophie verneint hat er eine eigene Philosophie und das ist mehr oder weniger der französische Rationalismus des 18. Jahrhunderts in die anglosächsische empirisch-utilitaristische (Engineering mind) Sprache übertragen. Trotz unserer besten Sympathien für Eastman müssen wir in dieser allerwichtigsten Frage bei einer passenden Gelegenheit eine scharfe Scheidungslinie ziehen [...]" (Büyükada, 18. VII. 1932).

6) Nach einer Verschärfung des Streits innerhalb der Communist League: "[...] I want to write you again about the very dangerous situation in the League. The crisis is typical of the transition from one stage of development into another. But there have been examples in the history of human society when the crisis of transition became so acute, and absorbed so much strength, that society, instead of marching forward, collapsed. The same result has been observed [...] in the history of political organizations [...]". Die Verlegung der Zentrale der League von New York nach Chicago begrüße er. "[...] Some comrades say [...] that the League is not prepared for such a radical change in its activity [...] But what is meant by 'preparation'? On the existing basis, the continuous preparing of a chance is only the preparing for death. There are situations in which a hazardous step is unavoidable. I do not deny that there is some danger in the radical change, but it is impossible to avoid a great danger without any danger [...] The latest experiences of the Comintern throughout the world, show that we must turn our face more in the direction of the masses than of the Party [...]" (Büyükada, 12. VII. 1933).

7) Über die von der niederländischen Unabhängigen Sozialistischen Partei und der deutschen Sozialistischen Arbeiterpartei geplante internationale Youth Conference, die der Linken nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten neue Impulse geben sollte: "[...] The initiator is the O.S.P. This fact has its positive as well as its negative sides. O. S. P. is a left centrist party which will still give us not a little trouble. Its advantage lies in the fact that it is composed entirely of young workers. The firm OSP is more convenient for the convocation of the conference as it does not repel the vacillating. On the other hand, you are entirely right that the conference could produce serious results only on the condition that our delegation comes united and well-prepared [...]".([Frankreich], 21. XI. 1933). Für die SAP nahm Willy Brandt an der Konferenz am 24. II. 1934 teil.

8) Glotzer war zur Jugendkonferenz nach Paris gereist: "[...] Sie werden in New York berichten koennen, dass sich im konservativsten Lande Europas, Frankreich, die Dinge - darunter auch die Ligue - in Schwung gekommen sind [...] Haben Sie die Genossin Maria Reese gesehen? Es ist absolut notwendig, dass Sie sie besuchen und mit ihr die Modalitaeten ihrer Reise nach Amerika besprechen [...] Sie werden wohl gehoert haben, dass Maslow und Ruth Fischer im Begriffe sind, sich uns anzuschliessen [...]" ([Frankreich], 12. II. 1934).

9) Über den Umgang mit moderaten linken Parteien und Gruppen: "[...] Wenn man sich theoretisch und praktisch (auch zahlenmaessig) stark genug fuehlt, so kann man eine zentristische Organisation direkt aufnehmen und die Erziehung ihrer besten Elemente dann innerhalb der vereinigten Organisation weiterfuehren. Es gibt fuer diese Dinge kein allgemeines Rezept [...] Mit diesen Worten will ich auch kein ‚Rezept' fuer Amerika vorschlagen [...] Ich moechte nur Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die grundsaetzliche Unversoehnlichkeit durch organisatorische Geschmeidigkeit ergaenzt werden muss. Wir muessen den Zentrismus nicht nur theoretisch verstehen und kritisieren, [...] wir muessen ihm gegenueber auch organisatorisch manoevrieren [...] P. S. Wie steht es mit den Antikriegsthesen? [...] Die Frage ist hoechst wichtig [...]"([Frankreich], 10. IV. 1934).

10) Über die Socialist Party of America, der Glotzer beigetreten war: "[...] die Frage: langfristig - kurzfristig scheint mir jetzt künstlich [...] Die weitere faktische Linie wird sich aus den Ereignissen der nächsten Monate erst ergeben können. Man sollte daher meiner Ansicht nach die Erinnerungen an die früheren Streitigkeiten und das Spintisieren über alle möglichen Entwicklungsvarianten weglassen und ruhig und sachlich an die Arbeit gehen [...] Mit Genossen Muste haben wir sehr ausführlich gesprochen, mit grossem Nutzen [...] Gestern haben wir von ihm [...] als die besten Freunde Abschied genommen. Jetzt warten wir auf Shachtman [...]" ([Norwegen], 6. VII. 1936).

11) Nach Abschluß des internationalen Tribunals zur Untersuchung der von Stalin behaupteten Verbrechen Trotzkis, an dem Glotzer als Reporter teilgenommen hatte. "[...] We have now received the complete record and everybody here admires your work, especially in view of my terrible English. You functioned not only as a stenographer but also as an English teacher and editor. Some corrections will be proposed by Wolfe and Ruth Ageloff [...]" (Coyoacan, 3. VI. 1937).

12) Glotzer stand vor der Gründung der Socialist Workers Party. "[...] The creation of an independant party with about 2000 members is a very important step forward. The inner regime in the party is of the greatest importance. It must be a regime of a genuine democracy. I agree with you on that matter totally [...] But there are methods to fight for party democracy, which are very dangerous to this aim. The present leadership [...] is not an accidental one: it is a result of a selection of a long period of struggle. In three to five years the new experience can induce important changes in the composition and in the mentality of the leadership. But to try to change the leadership by some too-impatient, too sharp measures can become fatal [...]" (11. IX. 1937).

13) Nach dem Besuch eines zionistischen Genossen: "[...] Ruskin [...] questioned me as to what I thought about Palestine and the possible interference of the USSR in favor of the creation of a Jewish state [...] I answered him that they were preparing a fine trap for the Jews in Palestine [...] With the decline of American capitalism, anti-semitism will become more and more terrible in the United States - in any case more important than in Germany. If the war comes, and it will come, a good many Jews will fall as the first victims of the war and will be practically exterminated. [...] The French Revolution and then the October Revolution accomplished a bit more for the Jews than did Zionism and the other specific ‚solutions' to a question that has no solution under the regime of declining capitalism. Only the international revolution can save the Jews [...]" (14. II. 1939).

Beiliegend ein ebenfalls an Glotzer gerichteter Brief, gez. R. Ruskin, Parteifragen betreffend (1937).

Teilweise etwas fleckig und mit kleineren Randläsuren (vereinzelt unterlegt).

Art.-Nr.: BN#45782 Schlagwörter: , ,