Rezension in: German Studies Review, Vol. 28, No. 1 (Feb., 2005), pp. 173-175
Rezensent: Franz R. Kempf, Bard College
Kafkas letzte Liebe, Kafkas letzter Freund - moribunde Marktstrategie einer morbiden Industrie? Das Eigentliche, der Mensch, als Untertitel? Erstveröffentlichung von schon Gedrucktem? Irgendwie kafkaesk dies alles, aber gerade deshalb unendlich faszinierend.
Dora Diamant, 1898 in einem polnischen Stetl geboren und 1952 im Londoner Exil gestorben, war die einzige Frau, mit der Kafka zusammengelebt hat. Von September 1923 bis Marz 1924 teilten sie verschiedene Wohnungen in Berlin, danach, bis zu seinem Tod am 3. Juni 1924, pflegte sie den Tuberkulosenkranken selbstaufopfernd auf seiner Odyssee von Sanatorium zu Sanatorium in und um Wien. Der Unterschied zu seinen früheren (Brief-)Beziehungen (Felice Bauer, Milena Jesenska) war so frappierend, dass Kafka selbst seinen Umzug nach Berlin mit dem "Zug Napoleons nach Russland" verglich (Briefe 447). Persönlich eher das Gegenteil von Kafka war es wohl vor allem die Sprache, Literatur und Kultur des Ostjudentums, die durch sie für ihn höchst lebendig wurden. Auch der Hebräisch-Unterricht und der Traum einer Auswanderung nach Palästina (wo man ein Restaurant eröffnen wollte, mit Diamant als Köchin und Kafka als Kellner) gehören zu der beiden geistigem Band.
Nach einer Ausbildung zur Schauspielerin und einem einjährigen Engagement an einem rheinischen Provinztheater lebt Diamant ab 1929 wieder in Berlin, ist aktiv im kommunistischen Untergrund, heiratet einen KPD-Funktionär, dem sie 1936, zusammen mit der zweijährigen Tochter, ins Moskauer Exil folgt. Während ihr Mann in die stalinistische Säuberungsmaschinerie gerät, gelingt es ihr und der Tochter, sich auf bisher ungeklärte Weise in den Westen abzusetzen und in England Asyl zu finden. Ein Jahr lang ist sie auf der Isle of Man als "enemy alien" interniert, überlebt den Krieg in London, wo sie schließlich, nicht ohne zuvor noch Israel gesehen zu haben, an einem chronischen Nierenleiden stirbt.
Seit 1985 ist Kathi Diamant der nicht mit ihr verwandten Dora Diamant auf der Spur. Sie hat Personen ausfindig gemacht und interviewt, die Dora noch gekannt haben, wie z.B. Kafkas Nichte Marianne Steiner. Mit feinster detektivischer Spürnase hat sie biographische Dokumente zu Tage gefördert, von deren Existenz gar niemand wusste, darunter Diamants Komintern-Dossier in Moskau. Das für die Kafka-Forschung wohl vielversprechendste (allerdings nicht öffentlich zugängliche) Fundstück sind die im Nachlass von Marthe Robert entdeckten handschriftlichen "Memoiren" Diamants. Noch brisanter waren natürlich die von der Gestapo aus Diamants Wohnung beschlagnahmten Notizhefte Kafkas aus der Berliner Zeit und seine Briefe an Diamant. Sie gelten aber als verschollen.
Als eigentliche Biographin ist Diamant weniger erfolgreich. Dafür ist die vorliegende Biographie, die erste über Dora Diamant, zu sehr ein Zwitter. Für eine "äußere" Biographie ist sie zu geschwätzig, für eine "innere" Biographie ist sie zu laienhaft. Mit seiner ihm eigenen Präzision und Prägnanz hat Kafka die Bedeutung Diamants gleichsam auf den Punkt gebracht: "Sie [Diamant], die aus dem Osten kommt, ein dunkles ahnungsvolles Etwas, wie aus einem Dostojewskibuch entlaufen" (Briefe 436). Störend wirken schließlich auch die hier wiederholt hergestellten, aber mitunter ans Banale grenzenden Verbindungen zwischen Leben und Werk Kafkas.
Der Nachlass von Robert Klopstock stand Diamant nicht zur Verfügung. Unter den 38 hier kritisch hervorragend herausgegebenen Korrespondenzstücken Kafkas an Klopstock (14 davon sind zum ersten Mal vollständig, 7 zum ersten Mal überhaupt gedruckt) hätte sie auch von Brod unterdrückte Nachschriften Dora Diamants gefunden. Sie legen beredtes Zeugnis ab "von der außerordentlichen Nähe zwischen Kafka und Dora" (6). Über die Gründe von Brods auch sonst berüchtigter editorischer Willkür kann man nur spekulieren. Bei Diamant spielte wohl Eifersucht mit, bei Klopstock - gerade seine Briefe scheint er besonders gern zu kürzen - waren es eher ideologische Vorbehalte: wenn Kafka seinen neuen "Freund" bei Brod mit den Worten einführt, er sei "antizionistisch," und "Jesus and Dostojewski [seien] seine Führer," dann musste Brod zu dem Schluss kommen, Klopstock habe gleich drei Teufel im Leibe (274). Klopstock, 1899 in Ungarn geboren und 1972 in New York als wissenschaftlich anerkannter Spezialist für Lungentuberkulose gestorben, hat Kafka 1921 bei einer Kur in Matliary kennengelernt - es war Kafka, der den 21jährigen wegen des Kierkegaard-Buches unter seinem Arm ansprach - und ihn bis zuletzt medizinisch versorgt. Welcher Art das Verhältnis über die Arzt-Patient Beziehung hinaus genau war, ist selbst unter Einbezug von Kafkas Gegenbriefen schwierig zu eruieren. Aufs Ganze gesehen beruhte die Verbindung wohl mehr auf Gegenseitigkeit als landläufig angenommen wird, d.h. Kafka war nicht nur "Vater" und "Mentor", Klopstock nicht nur ehrfürchtiger Bewunderer. Vereinzelte Briefstellen suggerieren eine gewisse homoerotische Anziehungskraft. Faktisch abgesichert ist ein reger geistiger Austausch. Im Vordergrund standen dabei zwar Philosophie und Religion, aber Klopstock machte Kafka auch mit ungarischer Literatur bekannt, besonders mit dem von ihm ins Deutsche übersetzten Satiriker Frigyes Karinthy und dem Lyriker Endre Ady.
Der für die Kafka-Forschung wohl wichtigste Gewinn aus dem nunmehr zugänglichen Nachlass ist der Nachweis von Kafkas intensiver Fackel-Lektüre. Damit eröffnet sich hinter allem Siechtum und allen äußeren Widerlichkeiten ein innerer geistiger Zusammenhang, auf dem Kafkas letztes Lebensjahr ruht, nämlich sein Judentum. Eingedenk der von Kafka sicherlich geteilten Überzeugung Gershom Scholems, dass sich der "Stil von Kraus aus der hebräischen Prosa und Dichtung des mittelalterlichen Judentums, der Sprache der Halachisten" herleiten ließe (279-80), erscheint Disparates plötzlich vernetzt: seine "Liebe" zu Diamant mit seiner letzten Erzählung Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse, seine "Freundschaft" zu Klopstock mit seiner hier erneut zum Ausdruck gebrachten Kritik an Werfel, der für ihn, aufgrund seiner neuesten Werke, zum Verräter an der deutsch-jüdischen Literatur geworden war (290-91). In einem der an Klopstock gerichteten Gesprächszettel, mit denen Kafka am Schluss kommunizierte, heißt es: "Lesen Sie auch die Episode aus Werfels Roman [Verdi]. Es geht mir wieder so nah wie [Werfels Drama] Schweiger, ich kann darüber nichts sagen" (74). Gesagt hat er tatsächlich nichts, als Werfel ihn noch in Berlin besuchte. Wie Diamant zu berichten weiß, kam Werfel weinend aus Kafkas Zimmer gerannt, weil der während ihrer Unterhaltung seinen Schweiger mit keinem Wort erwähnte (84). Ausgeschwiegen hat sich Kafka auch darüber, welche Verdi-Episode er meinte. Ein weiteres Rätsel für die Kafka-Forschung also, wenn auch nicht das letzte.