Rezension: Ich kenne den Zauber der Schrift (Arbitrium)

  • Arbitrium
  • 1. Januar 2007

Rezension in: Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft 25:1 (2007), S. 100-102
Rezensent: Walter Hettche, Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, D-80799 München

Ich kenne den Zauber der Schrift.

Die 991 Nummern umfassende Autographensammlung, die in diesem Band dokumentiert und mit zahlreichen Abbildungen illustriert wird, existiert nicht mehr. Die kostbaren Handschriften, die Stefan Zweig seit seiner Schulzeit ein halbes Jahrhundert lang zusammengetragen hat, sind zum Teil schon zu seinen Lebzeiten und dann nach seinem Freitod 1942 verschenkt oder verkauft worden. Zweig selbst hat seine Sammlung als ein Kunstwerk eigener Art verstanden, von dem er wünschte, es möge wenigstens in einem Katalog der Nachwelt erhalten bleiben. Dieser Wunsch ist nun, über 60 Jahre nach Zweigs Tod, endlich erfüllt worden: Aus den Antiquariatskatalogen, in denen Zweig seine Schätze nach der Emigration 1933 anbieten ließ, aus erhaltenen Sammlungsmappen und Karteikarten sowie aus Bibliothekskatalogen hat Oliver Matuschek den Bestand rekonstruiert und detailliert beschrieben. „Stefan Zweigs Aufsätze über das Sammeln von Handschriften" (S. 90-160), die dem eigentlichen Katalogteil vorangestellt sind, waren zwar alle bereits publiziert, aber oftmals in heute nur schwer zugänglichen Periodika, so daß ihr kommentierter Wiederabdruck an dieser Stelle sinnvoll erscheint, zumal Zweigs Ausführungen entscheidend zum Verständnis der ausgeklügelten Komposition seiner Sammlung beitragen.

In seinem 80seitigen Einleitungsessay erzählt Matuschek kenntnisreich und auf der Grundlage vieler bisher ungedruckter Quellen die Geschichte der Sammlung Zweig. Matuschek verliert sich dabei keineswegs im Anekdotisch-Privaten, sondern stellt immer die Verbindung zum zeithistorischen Kontext her, zum Beispiel, wenn es um die Gründe geht, die Zweig kurz nach Hitlers Machtergreifung zum Kauf eines Autographen von der Hand des Diktators bewogen haben mögen (S. 52f.), oder wenn die Umstände von Kauf und Weiterverkauf des Lieds der Deutschen von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben geschildert werden: Zweig hatte das Autograph im Mai 1936 „verhältnismässig sehr billig gekauft", wollte „das nationalistische Gedicht" aber nicht in seiner Sammlung haben, sondern „sehr teuer", nämlich für 2500 Mark, wieder abstoßen (S. 69). Er bot es dem Wiener Antiquar Heinrich Hinterberger an, der postwendend antwortete: „Wie ich Ihnen schon einmal mündlich mitgeteilt habe, habe ich eine sehr gute Verbindung zu einer Persönlichkeit, die gerne geeignete Stücke erwirbt, um sie Adolf Hitler zu schenken. Das in rede stehende Stück eignet sich für diesen Zweck ausserordentlich gut" (S. 70). Zu Zweigs Beruhigung erwarb schließlich Martin Bodmer das Autograph, in dessen Sammlung es sich bis heute befindet (Fondation Martin Bodmer, Cologny - Geneve).

Die Anfänge von Zweigs Beschäftigung mit Handschriften von Dichtern und Musikern reichen in die Zeit vor der Jahrhundertwende zurück. Einerseits folgte der Schüler damit einem zeitgenössischen Modetrend (vgl. S. 9), andererseits entwickelte der junge Sammler sehr bald auch ein beinahe wissenschaftliches Interesse an den handschriftlichen Zeugnissen schöpferischer Tätigkeit, das für die Struktur seiner Sammlung prägend werden sollte. Es lag ihm nicht viel an Briefen, Albumblättern oder auch nur Reinschriften literarischer Werke, sondern fast ausschließlich an Arbeitsmanuskripten, die den kreativen Akt, den Moment der ,Inspiration', der dichterischen Schaffensweise erkennbar werden lassen. Welch kuriose Blüten diese Fixierung auf solche Dokumente trieb, zeigt ein Brief Zweigs an Karl Emil Franzos, in dem er dem Redakteur und Erzähler einige Autographen zum Tausch gegen ein Werkmanuskript aus Franzos' Feder anbietet: „Von den Autographen nenne ich nur Wieland 4 Seit[.] langer Brief an Gleim (sehr interessant), Goethe nur ,ergebenst Goethe' eigenhändig, behandelt die Betonung des Wortes Hafis, Anzengruber, ein unterschriebenes eigenhänd[.] Billet von Beethoven, sehr drastischen Inhalts [...] wenn Sie von diesen etwas interessiert bin ich gern bereit es Ihnen zu überlassen" (Brief vom 18. Februar 1898; S. 11). Bei allem Respekt vor dem durchaus schätzenswerten Franzos: Hier offeriert der Siebzehnjährige, um ein Manuskriptblättchen des doch eher randständigen Karl Emil Franzos zu erhalten, ein Autographenkonvolut, für dessen Gegenwert man mittlerweile eine kleine Eigentumswohnung erwerben könnte.

In dieser frühen und über Jahrzehnte durchgehaltenen Konzentration auf Arbeitshandschriften liegt indessen auch der wissenschaftliche Wert der Sammlung Zweigs (und damit auch des vorliegenden Katalogs). In seinen Aufsätzen nimmt Zweig Erkenntnisse vorweg, die heute beispielsweise von der französischen critique genetique formuliert werden, etwa, wenn er in dem Aufsatz „Ein Blättchen Papier ..." Eine Apologie des Autographensammelns schreibt, der Autographensammler suche nicht „die vollendete Form eines Kunstwerkes", sondern „die Urform, die unvollendete, in der noch die Schöpfung gärt; [...] den Anfang, den Urzustand des Werkes" (S. 101). Wenn Zweig in diesem Zusammenhang die Buchpublikation als die „vorläufig endgültige" (ebd.) Gestalt des Kunstwerks bezeichnet, ist er nicht weit entfernt vom Konzept eines ,dynamischen' Textbegriffs, wie ihn unter den heutigen Editionswissenschaftlern zum Beispiel Gunter Martens, Axel Gellhaus und Klaus Hurlebusch vertreten.

Im Katalogteil werden die Autographen alphabetisch nach Autoren angeordnet, und zwar in zwei Teilen getrennt nach „Literatur, Geschichte, Wissenschaft, Kunst" (S. 163-351) und „Musik" (S. 353-397). Die Beschreibungen enthalten Angaben zu Umfang und Format, zur Provenienz der Stücke und zu den Quellen, aus denen Oliver Matuschek die Zugehörigkeit des jeweiligen Objekts zur Sammlung Zweig ermittelt hat; diese sind am Schluß des Bandes noch einmal übersichtlich zusammengestellt. Höchst willkommen sind die Informationen über die heutigen Aufbewahrungsorte der Handschriften; in der überwiegenden Zahl der Fälle sind es die Fondation Martin Bodmer in Cologny - Geneve und die British Library in London. Nicht wenige Blätter sind allerdings mittlerweile verschollen. Bei der Lektüre des Katalogteils kann man nur ungläubig staunen, welche Schätze ein - zugegebenermaßen finanziell gut ausgestatteter - Sammler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dem freien Markt erstehen konnte: Notenautographen von Bach, Beethoven und Mozart, eigenhändige Werkmanuskripte von Andreas Gryphius, Heinrich von Kleist, Jakob Michael Reinhold Lenz, Goethe (darunter ein zweiseitiges eigenhändiges Manuskriptfragment aus Faust. Der Tragödie zweiter Teil), Schiller, Hölderlin (15 Nummern, darunter die Elegie Stutgard), Stifter, Kafka - selbst ein gut betuchter Sammler würde heute Schwierigkeiten haben, solche Rarissima im Autographenhandel aufzutreiben. Das besondere Charakteristikum der Sammlung Zweig ist indessen die gute Mischung von Spitzenstücken einerseits und Beispielen der poetae minores andererseits: Joseph Roth in unmittelbarer Nachbarschaft von Otto Roquette, Cäsar Flaischlen eingerahmt von Henry Fielding und Gustave Flaubert, Rudolf Gottschall zwischen Gotthelf und Gottsched - aber auch Adolf Hitler direkt vor Friedrich Hölderlin. Zu den Kuriositäten der Sammlung gehören ein Blatt von der Hand Marianne von Willemers, nämlich ein „[e]igenhändiges Gedicht in Dialogform, von der Autorin im Namen ihrer Hunde unterzeichnet: ,Pudel und Bello'" (Nr. 801, S. 348) und der „letzte Wäschezettel von Beethoven" (Nr. 831, S. 358).

Auf einen gewichtigen Teil der Sammlung Stefan Zweig sei hier noch besonders hingewiesen, obwohl er nicht eigentlich zum Gegenstand von Matuscheks Katalog gehört. Es handelt sich um Zweigs rund 4000 Bände umfassende „Bibliothek aktueller und antiquarischer Auktions- und Handelskataloge für Autographen" (S. 12), die zum großen Teil erhalten geblieben ist und sich heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und im Archiv des Auktionshauses J. A. Stargardt in Berlin befindet. Die Erstellung von Werk- und Briefverzeichnissen und die Vorbereitung historisch-kritischer Ausgaben ist ohne diese Kataloge kaum möglich, und es ist jedem mit derlei Projekten befaßten Wissenschaftler dringend anzuraten, dieses unerschöpfliche Quellenmaterial zu konsultieren.

Von dem zeit seines Lebens nicht zustandegekommenen Katalog seiner Sammlung hat Zweig sich gewünscht, er solle „sehr genau und wissenschaftlich, dabei auch amüsant" sein (Brief an Karl Geigy-Hagenbach, 17. Oktober 1928; S. 45). Oliver Matuschek ist es glänzend gelungen, diesen hohen Anspruch zu erfüllen.