Auf die Schlachtbank

  • Frankfurter Rundschau
  • 21. November 2001
  • Stephan Hilpold

Das neue Thomas-Bernhard-Archiv in Gmunden und die geplante wissenschaftlich-kritische Werkausgabe

Gmunden - Die Landschaft, in die das Werk Thomas Bernhards jetzt zurückgekehrt ist, hat etwas Tückisches. Bis lange nach Mittag hängen dieser Tage die frostigen Herbstnebel über dem oberösterreichischen Salzkammergut, dann erst lichtet sich der Schleier, und milchig bricht in Bernhards Reich die Sonne durch. Wärmer wird es aber auch dann nicht. Künftige Forscher, die im neu installierten Thomas-Bernhard-Archiv in Gmunden über ihre Sicht auf den Großmeister der Pathologisierung der österreichischen Provinz arbeiten, werden sich warm anziehen müssen. Schließlich befinden sie sich in einer - glaubt man Bernhard - durch und durch verkommenen Gegend.

Dabei schaut alles so malerisch aus: Die sorgsam restaurierte Villa Stonborough-Wittgenstein, in der die Nachlässe des Dichters und seines Großvaters, Johannes Freumbichlers, aufbewahrt und erforscht werden, liegt auf einer Halbinsel am Rande eines leicht abfallenden Parks am Traunsee - flankiert von der "Großen Villa Toskana" und dem "Seehotel", dem Seeschloss Orth, Schauplatz der triefenden Fernsehserie. In dieser Gegend hat Bernhard in seinem geliebten Obernathaler Vierkanthof gelebt; in seiner Wohnung in Gmunden ist er vor 12 Jahren gestorben. Hier also, weitab größerer Zentren, wird sein Werk in Zukunft für Wissenschafter im Forschungszentrum der "Kleinen Villa Toskana" zugänglich sein.

"Die Schönheit der Landschaft soll uns jedoch nicht blenden", greift Peter Fabjan, Halbbruder und Erbe Thomas Bernhards, jeder Verklärung vor. Er, der langjährige Gmundner Arzt, ist sich der Bedrohungen bewusst, denen Werk und Autor seit Bernhards Tod 1989 ausgesetzt sind. Es gilt, der österreichischen Eingemeindung und der Musealisierung des widerständigen Dichters zu widerstehen - es gilt, das Werk am Leben zu halten. Damit reibt man sich aber unweigerlich am Letzten Willen des Schriftstellers. Bekanntlich hatte Bernhard testamentarisch ein Aufführungsverbot seiner Stücke verfügt - und erklärt, dass aus seinem Nachlass "kein Wort" veröffentlicht werden darf. Eine Tatsache, die das Werk allerdings einer schleichenden unkontrollierbaren Indienstnahme anheim stellt. Also entschied sich Fabjan vor drei Jahren, eine Thomas Bernhard Privatstiftung einzurichten. Seitdem sind vitalisierende Aktivitäten rund um Bernhards Hinterlassenschaften möglich.

"Ob der Dichter das Archiv gewollt hätte", sagt Fabjan jetzt, drei Jahre später, und denkt dabei wohl auch an die großzügige Unterstützung der Oberösterreichischen Landesregierung bei der Errichtung, "weiß ich nicht." Schließlich dient das Archiv letzten Endes natürlich auch dazu, Thomas Bernhards letzten Willen zu umgehen. Nur durch die Aufarbeitung des Nachlasses, wie sie seit einiger Zeit durch Archivleiter Martin Huber im Gange ist, wird die Sicherung und Korrektur der Texte möglich - und kann eine Leseausgabe der Werke Bernhards (gewissermaßen als eine frühe Vorstufe für eine angedachte Historisch-Kritische Ausgabe) in Angriff genommen werden. Anlässlich der Eröffnung des Archivs wurde die Planung der Werkausgabe durch den Suhrkamp Verlag jetzt präzisiert.

Auf 22 Bände angelegt, werden die ersten drei von den Erkenntnissen des Nachlasses gespeisten Bände (Frost, Kurzprosa und Dramen I) bereits im Herbst nächsten Jahres erscheinen. Herausgegeben wird die Ausgabe, in der Eingriffe in den Text vermerkt, Varianten benannt sowie Entstehung und Wirkungsgeschichte der Werke erläutert werden, vom Wiener Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler und Martin Huber.

Natürlich sollen in die Ausgabe ausschließlich Texte aufgenommen werden, die zu Lebzeiten des Schriftstellers publiziert wurden. Nicht die unveröffentlichten Prosatexte und Gedichte des frühen Bernhard etwa, nicht der aus dem Jahre 1960 stammende Roman Schwarzach St. Veit. Damit bewegt man sich zwar auf einem vom Dichter nicht gesicherten Terrain - "kein Wort" dürfe aus dem Nachlass veröffentlicht werden, hieß es im Testament -, einsichtig ist aber das von Fabjan und den zuständigen Wissenschaftern vorgebrachte Gegenargument: Mit der (finanziell wohl nicht unlukrativen) Ausgabe gehe es darum, Klarheit im Dichterreich zu schaffen. Schmidt-Dengler: "Gerüchte über das Werk tragen nur zu einer weiteren Mystifikation Bernhards bei." Und diese sollte man wohl auch im Sinne Bernhards vermeiden.

Die "Bernhard Ereigniskultur" - es war nicht erst anlässlich des 70. Geburtstages des Schriftstellers im Februar dieses Jahres zu beobachten - steht nämlich in voller Blüte. Gerade erregt etwa ein frühes Regiebuch des "Alpenkönigs und Menschenfeinds", das "unter dubiosen Umständen in ein Antiquariat gelangte, das noch dubiosere Preise verlangt", so der Suhrkamp-Lektor Raimund Fellinger, die Gemüter der Bernhard-Gemeinde. Wohl nur durch die unaufgeregte, sorgsam wissenschaftliche Aufarbeitung von Bernhards Werk kann der postumen Ausschlachtung des Dichters ein Riegel vorgeschoben werden - und der breiten Rezeption des Dichters, der mittlerweile in 25 Sprachen übersetzt ist, das nötige Fundament geboten werden.