"Außerstande, zu denken und schön zu schreiben"

  • Der Standard
  • 12. November 2001
  • Thomas Trenkler

Ohne Zweifel eine Sensation: Ein bisher unbekanntes großes Manuskript von Thomas Bernhard. Es handelt sich um eine Bearbeitung von Thomas Wolfes Stück "Herrenhaus" von 1957 - mit 68 eigenhändig geschriebenen Seiten.

Wien/Graz - Auf der vierten Umschlagseite der Taschenbuchausgabe des Romans Frost, 1965 bei Knaur erschienen, ist eine eigenartige Biografie über Thomas Bernhard zu lesen: "Vier Jahre arbeitete er als Gerichtsberichterstatter, später als Bibliothekar an einem Kulturinstitut in London. Er studierte in Wien und Salzburg Musik und absolvierte 1957 mit einer vergleichenden Arbeit über Bertolt Brecht und Antonin Artaud seine Dramaturgie- und Regiestudien an der Akademie Mozarteum."

Das klingt zwar plausibel, aber weder hatte der Schriftsteller, der in den folgenden Jahren als Meister der Überzeichnung und Übertreibung bekannt werden sollte, in einer Bibliothek gearbeitet. Noch über Brecht und Artaud geschrieben: Eine Abschlussarbeit zu verfassen war zu jener Zeit, wie von Professoren und Rektoren des Mozarteums in der Vergangenheit mehrfach bestätigt wurde, zum Leidwesen der Bernhard-Forscher noch nicht üblich.

Der vielfach begabte Autor soll damals aber auch mehrere Regiebücher erstellt haben, unter anderem zum Herrenhaus von Thomas Wolfe, wie der Theaterkritiker Peter von Becker 1978 (Bei Bernhard. Eine Geschichte in fünfzehn Episoden) berichtet: Bernhard soll die Hamburger Inszenierung von Gustaf Gründgens von 1956 gesehen haben, der es "ruiniert" hätte, "ohne Zugang zu Poesie und Geist".

Doch auch für die Existenz dieses Regiebuchs ließ sich nie ein definitiver Beweis finden. Selbst Herta Leisner, die Witwe nach Rudolf Leisner, bei dem Bernhard am Mozarteum studiert hatte, konnte Louis Huguet, der 1996 eine detaillierte Chronologie über den Schriftsteller herausbrachte, nicht weiterhelfen.

Eine Fiktion also, wie so vieles? Mitnichten. Bernhard hatte sich von einem Buchbinder weiße Blätter zwischen die gedruckte Rowohlt-Ausgabe des Dramas binden lassen - man spricht von einem "durchschossenen Exemplar", wie es bei Regiebüchern Usus ist - und füllte sie mit einem Vorwort, mit unzähligen Anweisungen, Korrekturen, Anmerkungen und 25 Skizzen: "Es gibt bessere Stücke, aber wenige, die ich leidenschaftlicher gelesen und gewürdigt hätte", schreibt Bernhard.

Düsterer Schluss

Diese Arbeit, 68 mit Bleistift geschriebene Seiten, ist aber nicht bloß ein Regiebuch, sondern eine eigenständige Bearbeitung: Bernhard verlegte die Zeit der Handlung des 1922 entstandenen Südstaatendramas, das von Tschechows Kirschgarten inspiriert ist (es geht ebenfalls um den Niedergang eines Hauses), von den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts, in denen der US-Bürgerkrieg tobte, in die Jahre 1952/1953, "die Zeit des Krieges in Korea".

Das Vorspiel aus der Kolonialepoche verlagerte er ins Jahr 1920 - und den Schluss in die Gegenwart, in "eine Zeit, vielleicht schon morgen": "In völligem Schweigen entwickelt sich rückwärts auf einem Projektionstuch ein mächtiger, sich über die Bühnenhöhe ausbreitender Atom-Pilz."

Er sei zwar "gegen die 'Verlegung' jedweden Stückes", notiert Bernhard, "jedoch schien es mir nicht nur interessant, hier zu beweisen, daß man, wie man sagt 'wirkliche Dichtung' ohne weiteres um 200 Jahre verschieben kann. Das Negerproblem ist heute wiederum zu modern als daß ich es in den Fordergrund (sic!) setzen möchte. Das eigentliche 'Problem' des Spiels dauert meiner Ansicht nach über etliche Jahrhunderte."

Für den jungen Bernhard ist Thomas Wolfe (auch Autor des Romans Schau heimwärts, Engel, 1922), "kein Dramatiker, aber ein (der) bedeutendste Amerikaner, der sich (...) durch ,die Gewalt der Poesie' auszeichnet": Neben ihm würden "alle Move-Dramatiker wie Williams, Wilder, usw., die doch völlig poesielose Gaukler der modernen Literatur sind", verblassen.

Das Manuskript ist eine wirkliche Rarität. Hat doch Bernhard in der Regel mit der Maschine (seines Großvaters Johannes Freumbichler) geschrieben - was in diesem Falle nicht möglich war. Und so bittet der Student im Vorwort, "die scheußliche Form" zu entschuldigen, "doch bin ich außerstande, zu denken und schön zu schreiben".

Von einem Salzburger Buchhändler, der die Aufregungen, die dieser Fund mit sich bringen wird, scheut, erwarben die Antiquariate Wolfgang Friebes (Graz) und Inlibris (Wien) gemeinsam das Regiebuch. Sie bieten es nun zum Verkauf an: Laut einem Gutachten dürfte der Wert bei 5,8 Millionen Schilling liegen: "An der Echtheit der Handschrift Thomas Bernhards besteht nach eingehender Prüfung und Schriftvergleichen keinerlei Zweifel."

Eine Uraufführung des Stücks - exakt nach den Vorstellungen des Autors - ist realisierbar. Sofern die Bernhard-Stiftung zustimmt.