Sieh' die Schwingung des K

  • Frankfurter Rundschau
  • 12. März 2003
  • Heribert Kuhn

Dürfen wichtige Handschriften der Öffentlichkeit entzogen werden? Die Spitzenerlöse für Kafka-Autographen veranlassen zu Gedankenspielen über das geltende Urheberrecht

Als Felice Bauer 1955, krank und in finanzieller Not, die über 500 Briefe und Postkarten verkaufte, die ihr Franz Kafka vor und während des Ersten Weltkriegs geschrieben hatte, bezahlte der New Yorker Schocken Verlag 8000 Dollar dafür. Reiner Stach, in dessen kürzlich erschienener Kafka-Biografie die Briefe Grundlage einer manchmal bis in stündliche Geschehensabläufe reichenden Rekonstruktion sind, bezeichnet den Betrag für heutige Verhältnisse als "marginal". Die Tatsache, dass einzelne Briefe Kafkas, die in den vergangenen Jahren aufgetaucht waren, bei Auktionen mehrere zehntausend Euro einbringen konnten, bestätigt Stachs Einschätzung.

Recht unwahrscheinlich ist es deshalb, dass die Ankündigung des Wiener Antiquariats Inlibris, den Nachlass von "Kafkas letztem Freund" zu versteigern, Anlass werden könnte, der Person Robert Klopstocks und ihrer Beziehung zu dem weltberühmten Prager Schriftsteller Aufmerksamkeit zu verschaffen. Material, das Leben des Mannes betreffend, der bei Kafkas Tod zugegen war, findet sich in den angeboten Schriften zwar genug, aber vor dem Hintergrund der rasanten Preisentwicklung im Autographen-Handel der vergangenen Jahre richtet sich das Interesse nun vor allem darauf, ob die in dem Konvolut enthaltenen 38 Briefe Kafkas - sollte der Nachlass einen Käufer finden - das gängige Preisniveau bestätigen oder gar noch anheben werden.

Das deutsche Literaturarchiv in Marbach, in dessen Bestand von Kafka-Handschriften der Klopstock-Nachlass am besten aufgehoben wäre, wird nicht mitbieten. Der Preis von 1,2 Millionen Euro steht für Jochen Meyer, den Leiter der Marbacher Handschriftenabteilung, in keinem Verhältnis zu vergleichbaren Objekten; so etwa dem Process-Manuskript, das sich ebenfalls in Marbach befindet. Die Erwerbsgeschichte gerade dieses Manuskripts veranschaulicht denn auch das Dilemma, in welches die kulturellen Institutionen bei Ankäufen von Handschriften, die sie zur Substantiierung ihrer Bestände und als Basis ihrer wissenschaftlichen Arbeit benötigen, geraten können.

Die Process-Handschrift war dem Literaturarchiv ursprünglich direkt von der Witwe Max Brods für 1 Million Mark angeboten worden. Weil für diesen Preis nicht erschwinglich, lehnte das Archiv ab. Erst als das Konvolut dem Londoner Auktionshaus Sotheby's zur Versteigerung übergeben worden war und man befürchten musste, dass Deutschland ein Kulturdenkmal ersten Ranges verloren gehen würde, kam der Vorgang an die Öffentlichkeit und wurde eine Debatte entfacht, in deren Folge die notwendigen Gelder bereitgestellt werden konnten. Der zu erbringende Kaufpreis betrug dann etwa 3,6 Millionen Mark, der ursprüngliche Preis hatte sich also mehr als verdreifacht.

Das Ergebnis solch spektakulärer Veräußerungen ist demnach zweischneidig: Das Objekt kann zwar letztendlich erworben werden, der Spielraum für die Verantwortlichen von Archiven und Sammlungen, zu einem Abgleich der Interessen zu kommen, wird aber kleiner. Wenn mit temporärem Spektakel Geld gemacht werden kann und die Institutionen nicht mehr mitzuhalten vermögen, bleibt ihnen kaum noch die Möglichkeit, die Vorteile ihrer Einrichtungen und ihren öffentlichen Auftrag den Anbietern gegenüber ins rechte Licht zu rücken.

Ob nun allerdings die vom Deutschen Literaturarchiv verfolgte Strategie, beim Klopstock-Nachlass Zurückhaltung zu üben, auf die Dauer richtig ist, muss man bezweifeln. Schließlich steht zu erwarten, dass es künftig noch öfter zu Angeboten von Kafka-Autographen kommen wird. In Tel Aviv befindet sich noch der Briefwechsel zwischen Kafka und Max Brod, dessen Wert für die Forschung kaum überschätzt werden kann. Reiner Stach hat auf die Bedeutung des Brod-Nachlasses im Vorwort seiner Biographie nachdrücklich hingewiesen; hier dürften sich, schreibt er, noch einige Überraschungen verbergen.

Desweiteren muss damit gerechnet werden, dass die 1986 für 500 000 Dollar versteigerten, seitdem verschollenen und nur als Photokopien zugänglichen Briefe an Felice wieder auf den Markt kommen. Welche Möglichkeiten Archiven und Instituten noch bleiben, wenn die etwa 400 Kafka/Brod-Briefe und die 511 Briefe Kafkas an die Geliebte in Gänze oder - worst case - einzeln angeboten werden, kann man sich mit Hilfe der inzwischen erzielten Einzelpreise ausrechnen.

Sich in der eigenen Ohnmacht einzurichten, wie es die Berliner Kulturstiftung der Länder vormacht, die dem Wiener Antiquariat per Gutachten den geforderten Preis von 1,2 Millionen Euro für den Klopstock-Nachlass bestätigt, in Abwägung des Nutzens für Forschung und Archiv den Ankauf aber für nicht vertretbar hält, dürfte jedenfalls auf Dauer nicht genügen.

Roland Reuß, neben Peter Staengle Herausgeber der beim Stroemfeld-Verlag erscheinenden Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke Kafkas, sieht die Sache denn auch prinzipiell. Am Markt und seinen derzeitigen Rahmenbedingungen kämen die dem Kafka-Erbe verpflichteten Institutionen nicht vorbei. Es nütze wenig, stets nur ereignisabhängig zu reagieren und, tauche eine Handschrift auf, von Fall zu Fall finanztechnisch zu taktieren. Forschung und Archiven fehle ein abgestimmtes Konzept, wie mit dem in Privatbesitz befindlichen Nachlass Kafkas umzugehen sei und wie man sich auf die noch zu erwartenden Verkäufe einstellen könne.

Reuß bestreitet nicht, dass für die Anbieter kompetente Anlaufpersonen existierten; jedoch werde das Anrecht der Öffentlichkeit auf die Schriften Kafkas in keiner Weise zur Geltung gebracht. Es bedürfe eben nicht bloß fachkundiger und geschickter Akquisition, es müsse auch die öffentliche Hand die Anbieter in ihrer Loyalität gegenüber dem weiteren Schicksal der von ihnen gehüteten Schriften unterstützen. Die Besitzer müssten in der Konzentration der Handschriften, ihrer Bearbeitung, fachkundigen Konservierung und nicht zuletzt der öffentlichen Präsentation und Aufwertung zum Kulturgut einen erheblichen Wert erkennen können.

Nun bleibt auch das ausgeprägteste staatliche Sendungsbewusstsein auf das Pathos des Appells beschränkt, wenn es nicht auch von rechtlichen Festlegungen gestützt wird. Wie aber kann für die Handschriften Kafkas neben dem ideellen auch ein rechtlicher Anspruch der Öffentlichkeit begründet werden? Reuß ist der Ansicht, dass sich gerade im Falle Kafkas eine andere rechtliche Sicht als die bisher gepflogene entwickeln lässt.

Die Forschung ist sich nämlich darüber einig, dass der graphische Aspekt der Handschriften Kafkas nicht wie bei anderen Schriftstellern in der Funktion des bloßen Bedeutungsträgers aufgeht. Kafkas Texte transportieren Bedeuten auch über den Duktus der Handschrift; in einem Brief forderte Kafka von Felice etwa, sie möge die Ausführung des Buchstabens K beachten. Der gestische Gehalt der Schrift ist so groß, dass das Ergebnis der Drucklegung seiner Texte für Kafka jedesmal mit Schrecken und Verlustgefühlen verbunden war. Das geltende Urheberrecht, so Reuß, sei platonisch fundiert und ausschließlich an den "Ideen", also der Bedeutung der Texte orientiert.

Die Konsequenz aus einer nicht-platonischen, den Besonderheiten der Handschrift Rechnung tragenden Argumentation wäre ein neues Urheberrecht. Wie im Fall der "Bedeutung" der Texte, die nach 70 Jahren gemeinfrei wird, dürften dann auch die Autographen sich nur eine bestimmte Frist lang in Privatbesitz befinden, um schließlich an ein zuständiges Archiv zu fallen. Die Folgen sind vorerst wohl nur als Plot eines Romans vorstellbar: Gemeinfrei gewordene Autographen, die von ihren Besitzern nicht pünktlich den öffentlichen Einrichtungen überantwortet werden, gelangen auf eine Fahndungsliste, weitere Vorenthaltung erfüllt den Tatbestand des Kunstraubs...

Es wäre jedoch schon etwas erreicht, wenn man bei der Diskussion der Vorgänge um die Kafka-Autographen Gemeinplätze wie den des "Reliquienhandels" vermiede und neben den fatalistischen Hinweisen auf die harten Gesetze des Marktes auch einmal die rechtlichen Implikationen bedächte, die die moderne Kunst birgt.