Vom „Kapital“ zur sozialen Marxwirtschaft

  • Welt
  • 6. September 2019

Das Museum der Arbeit widmet dem Klassiker von Karl Marx 150 Jahre nach der ersten Veröffentlichung im Hamburger Verlag Otto Meissner eine Ausstellung.

Eine kleine Tafel hängt am Haus Nummer 26 in der Bergstraße, wenige Schritte vom Rathausmarkt entfernt. Sie ist grau, unauffällig und leicht zu übersehen. Dabei klärt das Schild über eine bemerkenswerte Fußnote in der Hamburgischen Geschichte auf: Der Wissenschaftler, Politiker, Revolutionär und Journalist Karl Marx (1818 – 1883) veröffentlichte im Jahr 1867 den ersten Band seiner fundamentalen Schrift „Das Kapital“ im Otto Meissner Verlag, damals ansässig im Vorgängerbau des gekennzeichneten Hauses.

Von Hamburg aus also trat das Mammutwerk, das, so heißt es auf der Tafel, „die Welt verändern sollte“, seinen Siegeszug an. Marx lebte nach der gescheiterten Revolution von 1848 im Londoner Exil und reiste im April 1967 höchstselbst per Segelraddampfer in die Hansestadt, um seinem hiesigen Verleger das schwere Manuskript zu überreichen. 150 Jahre später schließt sich der Kreis in Hamburg mit der Ausstellung „Das Kapital“, die von heute an im Museum der Arbeit zu sehen ist.

Gehört Marx‘ Wälzer also in die Vitrine, ist der komplexe Stoff inzwischen museumsreif? Ja, aber nicht in dem Sinne, dass das Gedankengebäude des umstürzlerischen Propheten für überholt gehalten, dass mit herablassender Abgeklärtheit auf die Anfänge der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zurück geblickt würde.

Vielmehr versteht sich das Museum als Ort des Meinungsaustausches. Die von Joachim Baur konzipierte Schau will auf niedrigschwellige Weise Fragen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und damit zur Aktualität des „Kapitals“ stellen. Die Besucher sind aufgefordert, sie im Kopf zu bewegen. Fragen etwa nach der Verteilung von Reichtum und Armut. Nach den Ursachen und Auswirkungen von Ausbeutung. Nach Alternativen zu unserer modernen Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsweise. Vor allem geht es aber um den Wert der Arbeit, die Marx als Ware auffasste: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform“, lautet der erste Satz des „Kapitals“.

Auch die Ausstellung steigt mit dem Begriff „Ware“ ins Thema ein. Die „ungeheure Warensammlung“ hat hier eine uniforme Gestalt angenommen. Konservendosen über Konservendosen türmen sich in Supermarktregalen, sämtlich, so verrät Baur, mit Tomaten gefüllt. Doch sie wurden weiß verkleidet und fett beschriftet, sind zu Chiffren des Warensortiments geworden, mit dem die Gesellschaft handelt: mit Wissen, Macht, Zeit, Medikamenten, Robotern, Schuhen, Makeup und so fort.

Im Folgenden nähert sich der Kurator dem schwer lesbaren Buch in fünf Kapiteln. Dort geht es darum, wie „Das Kapital“ geschrieben und publiziert wurde, wie es gelesen und begriffen werden kann und wie es diskutiert werden sollte. Im ersten Abschnitt steht die langwierige, über 20 Jahre währende Schreibarbeit des Autors im Zentrum, die anhand des Briefwechsels mit seinem Freund und Mitstreiter Friedrich Engels nachvollzogen wird. Trotz aller Mühen wurde der Revolutionär aus Trier nur mit dem ersten Band fertig. So gab Engels nach sorgsamer Sichtung der hinterlassenen Manuskripte schließlich die Bände zwei und drei heraus, die 1885 und 1894 ebenfalls bei Otto Meissner erschienen.

„Das Kapital publizieren“ erzählt von dem Trip nach Hamburg, das sich ein Vierteljahrhundert nach dem Großen Brand gerade auf dem Weg in die Moderne befand. Der Besucher sieht die Stadt tatsächlich so, wie Marx sie erlebt haben muss. Denn die Wände sind mit vergrößerten Farbfotos tapeziert, die aus dem 19. Jahrhundert stammen.

In den Ausstellungskapiteln Lesen und Begreifen werden Inhalte offengelegt. Wie ist das, was Marx geschrieben hat, konkret vorstellbar? Die Texttafeln, die Begriffe wie Ware, Wert, Geld und Ausbeutung nach marxschem Verständnis erklären, ergänzen assoziationsfördernde Objektensembles. Ein Modell eines Oberkörpers mit freigelegten Muskeln steht für die Arbeitskraft, Fotos zeigen arbeitende Menschen. Marx Gleichungskette („20 Ellen Leinwand = 1 Rock oder = 10 Pfd. Tee oder = 40 Pfd. Kaffee oder = 1 Quarter Weizen oder = 2 Unzen Gold oder ½ Tonne Eisen oder = etc.) wird in genau diese Gegenstände übersetzt. Zur Veranschaulichung des Begriffs „kapitalistische Akkumulation“ liegt ein Haufen Bauklötze mit den Aufschriften „Reichtum“ und „Elend“ bereit. Jedermann darf ausprobieren, wie hoch hier gestapelt werden kann, bevor alles zusammenbricht. Im Diskussionsraum schließlich sind Fakten zu lesen, die Gespräche anregen wollen: „Dem reichsten Zehntel der Menschheit gehört 89 Prozent des Vermögens“ steht da zum Beispiel.

Marx wollte das kapitalistische System, das sich seinerzeit zu entwickeln begann und das er zum Scheitern verurteilte, umstürzen zugunsten der kommunistischen Idee. Eine gute letzte Frage könnte die nach Marx‘ Einfluss sein. Inwiefern haben seine gefeierten und verdammten, immer wieder aber heiß diskutierten Überlegungen dazu beigetragen, dass die Wirtschaftsordnung in Deutschland heute auf dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft beruht, das Leistungsgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit einschließt? Marx wollte eine Gesellschaft konstruieren, deren Reichtum dem Wohle aller dient. Jetzt ist das Buch, das der ewig klamme Denker 1867 nach Hamburg trug, selbst zu einer hochgehandelten Ware geworden. Im Regal zwischen dem Konserven liegt eine gewidmete Erstausgabe des „Kapitals“ (1. Auflage: 1.000 Exemplare). Der kostbare Band ist eine Leihgabe des Wiener Antiquariats Inlibris und steht zum Verkauf. Kostenpunkt: 1,5 Millionen Euro.