Rezension: Ich kenne den Zauber der Schrift (AdA)

  • Aus dem Antiquariat
  • 1 November 2006

Rezension in: Aus dem Antiquariat 6/2006, S. 474f.
Rezensent: Dirk Heißerer


Ich kenne den Zauber der Schrift. Katalog und Geschichte der Autographensammlung Stefan Zweig. Mit kommentiertem Abdruck von Stefan Zweigs Aufsätzen über das Sammeln von Handschriften. Bearbeitet von Oliver Matuschek. Wien: Inlibris, 2005, 432 S., geb., mit ca. 100 Abbildungen und einem mehrfarbigen Faksimile des korrigierten Zweig-Typoskripts 'Die Autographensammlung als Kunstwerk' (1914). 68 Euro, ISBN 3 -9501809-1-5. Matuschek, Oliver: Stefan Zweig. Drei Leben - Eine Biographie. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2006, 406 (10) S., geb., 19,90 Euro, ISBN 3-10-048921-7.


Vom “Zauber der Schrift”. Die Autographensammlung Stefan Zweigs

Gedenkjahre laden ein zur Revision. Bei dem überaus vielseitigen und erfolgreichen Schriftsteller Stefan Zweig (1881-1942) ist das im Jahr seines 125. Geburtstags nicht anders. Aber was bleibt von dem Lyriker und Novellisten, dem Übersetzer und Librettisten, dem Biographen und Essayisten? Weiterhin lieferbar sind, neben den 'Klassikern' des einstigen Insel-Erfolgsautors, den 'Sternstunden der Menschheit' (1927) und der 'Schachnovelle' sowie den 'Erinnerungen eines Europäers' an 'Die Welt von Gestern' (beide 1942) vor allem die Biographien zu Maria Stuart, Marie Antoinette, zu Erasmus, Montaigne, Joseph Fouché. Zum 'Kanon' der deutschen Literatur rechnet Marcel Reich-Ranicki freilich nur Zweigs 'Balzac'-Studie, und das aus gutem Grund. Balzac ist für Zweig neben Dickens und Dostojewski einer der 'Drei Meister' (1920), der den 'Kampf mit dem Dämon' (1925) ebenso kennt wie Hölderlin, Kleist und Nietzsche und daher, zusammen mit den 'Drei Dichter(n) ihres Lebens' (1928), Casanova, Stendhal und Tolstoi, im Sammelband der drei genannten Titel zu einem der geistigen 'Baumeister der Welt' (1936) ernannt wird. Diese pathetisch-leidenschaftliche Bezeichnung enthält das künstlerische Konzept Stefan Zweigs, die Erkenntnis des schöpferischen Menschen und die literarische Vermittlung einer mit dem jeweiligen Leben verbundenen Werkidee.

Als stimulierendes Hilfsmittel auf der Suche nach dem Wesen des jeweiligen schöpferischen Menschen nutzte Stefan Zweig eine einzigartige Sammlung von zuletzt fast 1.000 Handschriften mehr oder minder berühmter Schriftsteller, Musiker, Philosophen und Politiker, darunter die genannten 'Meister'. Daß freilich erst heute der "nahezu komplette" Katalog der 'Sammlung Stefan Zweig' vorliegt, von Oliver Matuschek akribisch ermittelt und mustergültig kommentiert, dazu mit 23 Aufsätzen Stefan Zweigs zum Thema sowie einem Faksimile ergänzt und nicht zuletzt vom Wiener Antiquariat Inlibris aufwendig in einem reich bebilderten Leinenband versammelt – dieser späte Umstand hat seine Gründe. Die aus einer Schülerschwärmerei des Wiener jüdischen Kaufmannssohns für Autogramme von Schauspieler- und Operngrößen des Burgtheaters entstandene erste Sammlung wuchs im Lauf der Jahre zu weitaus mehr an als zu einem beachtlichen Fundus berühmter Namen. Zweig hatte den Anspruch, mit den Autographen zum schöpferischen Zentrum des jeweiligen Schreibenden vorzudringen. Deshalb unterschied er auch das Interesse des Bibliophilen, der auf die "vollendete Form eines Kunstwerks" aus sei, von der des Autographensammlers, der die noch unvollendete "Urform" suche, "in der noch die Schöpfung gärt" (S. 101).

In einer Mischung aus religiösem Reliquienkult um "Goethes heilige Hand" auf einem teuren "Blättchen Papier" (ebd.) und magischem Fetischismus mit Goethes und Kants Haarlocken oder Beethovens Schreibtisch entwickelte Stefan Zweig sein eigentümliches "Verständnis von Erinnerungskultur und schöpferischer Tätigkeit" (S. 15). Freilich ist zu bedenken, daß die für das Judentum so wichtige "Heiligkeit des Niedergeschriebenen, des Kodifizierten", die Karl Wolfskehl in seinem Aufsatz 'Die Juden und das Buch' (1925) hervorhebt, "andern Glaubensformen" zwar fremd bleibt, doch für das Verständnis der Ehrfurcht Stefan Zweigs vor der 'heiligen Schrift' des schöpferischen Geistes geradezu unabdingbar ist. Mehr noch, mit Hilfe der Autographen ist Zweig eine vielfache Wiederbelebung abgeschiedener Geister möglich, der "Schriftschatten" (S. 117) ruft sie zurück und haucht ihnen Leben ein wie der Zettel unter der Zunge des Golem.

Das "Gefühl fast spektraler Gegenwart" ist allerdings "fühlbar einzig durch Phantasie", genauer durch "Beschwörung" (S. 103). Der "Zauber der Schrift" (S. 13), den zu kennen der 25jährige Sammler in einem Brief an Rainer Maria Rilke im März 1907 sich rühmte, vermittelt zwischen der Handschrift und dem Geist. So ist es auch verständlich, daß Stefan Zweig als Sammler-Forscher zunächst an korrigierten Werkmanuskripten interessiert war; hier war der Schaffensprozeß unmittelbar zu erleben. Besonderes Verständnis für Zweigs Sammlungsansatz verrät Sigmund Freud mit dem Geschenk des Entwurfs seiner Rede 'Der Dichter und das Phantasieren' (1909). Aber auch Reinschriften, wie die einer frühen Erzählung Thomas Manns ('Die Hungernden', 1897) und, in einer besonderen Ausnahme, vier Briefe Mozarts an sein Augsburger Bäsle gelangten in die Sammlung. Ihr Werden und vor allem ihre gezielte Auflösung zu Beginn des Exils wird von Matuschek anschaulich dargestellt. Der Katalog, von Zweig selbst geplant, aber aus verschiedenen Gründen nicht verwirklicht, liegt nun in einer Vollständigkeit und Geschlossenheit vor, die nur noch staunen läßt. Sinnvoll ist die Aufteilung in die beiden Bereiche 'Literatur, Geschichte, Wissenschaft, Kunst' und 'Musik'. Die Autographen der einstigen Sammlung Zweig in den vier wichtigsten Institutionen – Fondation Martin Bodmer, Cologny-Genève; The British Library, London; The Jewish National Library, Jerusalem; Österreichisches Theatermuseum, Wien – werden hier erstmals zusammengeführt. Die Aufsätze Zweigs zum Thema ersetzen darüber hinaus ein ganzes Seminar.

Neben dem Katalog legt Oliver Matuschek pünktlich zum Gedenktag am 28. November 2006 auch eine Biographie Stefan Zweigs vor, die unter dem Titel 'My three lives' von Zweig ebenfalls geplant, aber nicht ausgeführt worden war. Gemeint sind damit die drei Lebensabschnitte Zweigs in Wien bis 1919, in Salzburg bis 1933 und danach im Londoner und brasilianischen Exil bis zum Freitod 1942. Verständlicherweise widmet der Biograph, der auch hier viele bislang unbekannte Quellen erschließen konnte, dem Autographensammler Zweig ausführlich Raum. Der Katalog selbst ist allerdings weitaus mehr als nur eine Ergänzung zur Biographie. Er ist selbst ein einzigartiges Dokument der "Welt von Gestern" und erzählt die Kulturgeschichte des Abendlandes in der Spanne von Leonardo-Zeichnungen über Bach-Kantaten und Schubert-Lieder bis zum Tiefpunkt, dem Konzept einer Hitler-Rede, beispiellos nach.