Denkbewegung auf Papier

  • Der Standard
  • 4 November 2003
  • Thomas Trenkler

Die Nationalbibliothek erwarb vier große Manuskripte von Ludwig Wittgenstein, darunter die beiden Hauptwerke: die "Philosophischen Untersuchungen" und den "Tractatus logico-philosophicus".

Wien - 1920, nach Fertigstellung seiner Logisch-Philosophischen Abhandlung, besser bekannt unter dem Titel der deutschen Erstveröffentlichung 1922, Tractatus logico-philosophicus, gab Ludwig Wittgenstein, der seit 1908 in Großbritannien lebte, die Philosophie auf: Er ging zurück nach Österreich - und wurde Volksschullehrer. Zunächst in Trattenbach, später, ab 1922, für zwei Jahre in Puchberg.

Dort lernte er den Musik-und Mathematiklehrer Rudolf Koder kennen. Mit ihm führte Wittgenstein, der 1929 endgültig nach Cambridge übersiedelte, bis zu seinem Tod 1951 einen regen Briefwechsel, in dem es immer wieder um Musik und vor allem die des blinden Komponisten Josef Labor ging.

Margaret Stonborough-Wittgenstein, die Schwester des Philosophen, überreichte Koder als "Erinnerungsstücke" an seinen Lebensfreund vier Manuskripte: neben dem Tractatus mit 53 Seiten auch das zweite Hauptwerk Wittgensteins, die Philosophischen Untersuchungen (1936/1937), weiters die Lecture on Ethics (1929) sowie die Tagebücher 1930-1932 und 1936-1937. Da aber der Nachlassverwalter über die Schenkung nicht informiert wurde, galten die Manuskripte viele Jahrzehnte als verschollen - und tauchten erst nach dem Tod von Koder beziehungsweise dessen Frau wieder auf: 1997 wurden die bis dahin unbekannten Tagebücher unter dem Titel Denkbewegungen veröffentlicht.

Koders Sohn, der Byzantinist Johannes Koder, entschloss sich vor wenigen Monaten, die Manuskripte über das Wiener Antiquariat Inlibris zu verkaufen. Und die Österreichische Nationalbibliothek schlug kurzerhand zu. Über den Preis vereinbarten die Beteiligten Stillschweigen; er dürfte aber in der Größenordnung zwischen 600.000 und 700.000 Euro liegen.

Ernst Gamillscheg, Direktor der Handschriftensammlung, hält ihn angesichts der "Perlen", die man erwerben konnte, für angemessen: "Es handelt sich um die letzten großen Bestände, die auf dem Markt erhältlich sind oder sein können. Denn alles andere befindet sich entweder in Cambridge oder bei uns." So besitzt die ÖNB unter anderem viele Korrespondenzen (zum Teil als Schenkung der Familie Wittgenstein) und Vorstufen zum Tractatus. Johanna Rachinger, die Generaldirektorin, spricht daher von "einer wunderbaren Ergänzung zur bereits vorhandenen Wittgenstein-Sammlung": Gamillscheg erwartet sich von einer Untersuchung des Tractatus-Manuskripts neue Erkenntnisse zur Werkgenese. Der Ankauf erfolgt angesichts der hohen Investition in drei Tranchen. Die ÖNB erwirbt heuer den Tractatus und die Lecture on Ethics, 2004 die Philosophischen Untersuchungen und 2005 schließlich die Tagebücher.