"Nicht Weimar - Berlin war die Theaterhauptstadt"

  • Die Welt
  • 9 January 2014
  • Tilman Krause

Warum der Iffland-Nachlass für die Hauptstadt so wichtig ist: Der Germanist Conrad Wiedemann gibt Politikern Nachhilfe

Er hält das Konvolut zu dem Schauspieler und Berliner Theaterintendanten August Wilhelm Iffland (1759 bis 1814) für einen der wichtigsten Nachlass-Funde der Nachkriegs-Zeit, wie er gestern der "Welt" gegenüber beteuerte: Conrad Wiedemann, der lange Jahre die Forschungsstelle "Weimarer Klassik" an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften leitete. Im Gespräch mit der "Welt" präzisiert er jetzt, was der Fund birgt und wie man damit umgehen muss

Die Welt: 34 Bände, 7000 Briefe an Iffland, 1000 Antwort-Entwürfe von ihm selbst aus seiner großen Zeit als König des Berliner Nationaltheaters von 1796 bis 1814 – was kommt da auf uns zu?

Conrad Wiedemann: Da kommt immens aufschlussreiches Material auf uns zu, das zweifelsfrei belegen wird, was die Deutschen ja nur schwer begreifen: dass Berlin um 1800 unumstritten die deutsche Theaterhauptstadt war.

Die Welt: Nicht Weimar?

Wiedemann: Weder Weimar noch Mannheim, wo Iffland seine erste Triumphe feierte. Aber spätestens mit seinen Bühnenreformen um 1800 am Königlichen Theater am Gendarmenmarkt spielte die Musik in Berlin.

Die Welt: Wie muss man sich das vorstellen?

Wiedemann: Nun, das Berliner Theater mit seinen 2000 Plätzen war das größte im Land. Es spielte täglich zwei Vorstellungen, und die waren gut besucht. Nahezu jeden Tag gab es in der Berliner Presse Theaterkritiken. Es musste nur einer der Hauptdarsteller ausgewechselt werden, schon schrieb man darüber. Iffland selbst galt einhellig als größter deutscher Schauspieler seiner Zeit. In der preußischen Hauptstadt herrschte eine regelrechte Theatermanie.

Die Welt: Aber er war ja vor allem Intendant.

Wiedemann: Ja, und als Intendant gehen wichtige Reformen auf ihn zurück. Er sorgte dafür, dass sein Haus als erstes überhaupt in Deutschland über eine eigene Schneiderei verfügte. Er setzte durch, dass jeder Schauspieler für jede seiner Rollen über ein passendes Kostüm gebot. Glaubwürdigkeit und Lebensechtheit waren Ifflands Ziele. Er nahm den Historismus am Meininger Theater vorweg, das dann als Meininger Errungenschaft Epoche machen sollte. Aber der Erfinder dieser "historischen Wahrhaftigkeit" ist Iffland.

Die Welt: Sie selber haben zehn Jahre lang den Arbeitsschwerpunkt "Berliner Klassik" an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit vier Mitarbeitern geleitet. Hat da Iffland eine Rolle gespielt?

Wiedemann: Und ob! Wir haben die Revolutionsdramen von Iffland ediert, zu seiner Kostümreform publiziert, 5000 Theaterzettel zu seinen Inszenierungen ins Netz gestellt.

Die Welt: Das alles ist Teil einer spezifisch berlinischen Klassik?

Wiedemann: Allerdings. Die Berliner Klassik ist ein Begriff der Absetzung zur Weimarer Klassik. Beide Bewegungen haben sich die Vervollkommnung des Individuums und den Humanitätsglauben auf die Fahnen geschrieben. Aber die Weimarer Klassik um Goethe läßt das Individuum im Zusammenspiel mit der Natur zu sich selber kommen. Die Berliner Klassik im Zusammenspiel mit der Gesellschaft.

Die Welt: Die Berliner Klassik war also die eigentlich urbane?

Wiedemann: Ja. In Berlin konnte man die ganze Bandbreite der Gesellschaft erleben, nicht nur ein paar Adelige wie in Goethes "Wahlverwandtschaften". Berlin war im Gegensatz zu Weimar eine große Stadt mit vielen sozialen Brennpunkten und Konflikten, 1800 die neuntgößte in Europa, um genau zu sein. Da alles spiegelt sich in Ifflands Spielplanpolitik, der von der hohen Klassik – der Siegeszug Schillers auf deutschen Bühnen beginnt ja mit Ifflands Berliner Inszenierungen; hier wurde der "Tell" uraufgeführt – über das Historiendrama, das aktuelle Gesellschaftsstück, die Zauberposse bis hinunter zum Schwank und zur Operette alles anbot, was damals auf den Bühnen Erfolg hatte.

Die Welt: Da Sie mit Ihren Mitarbeitern sich so für Iffland interessiert haben: Ist Ihnen nie aufgefallen, dass seine Korrespondenz verschollen war?

Wiedemann: Doch, und einer meiner Mitarbeiter, Klaus Gerlach, der fünf Bücher zu Iffland vorgelegt hat, ist ja auch aufgefallen, dass plötzlich 34 Bände Iffland-Nachlass in einem Ludwigsburger Auktionskatalog angeboten wurden. Er hat dann auch den Berliner Kulturstaatssekretär André Schmitz eingeschaltet, der ja jetzt verhindern konnte, dass der Fund unter den Hammer kommt. Ob er aber auch nach Berlin zurückkehrt, ist ja noch offen.

Die Welt: Gesetzt den Fall, er kommt: Was sollte dann mit den 34 Bänden geschehen?

Wiedemann: Nun, es müsste schleunigst eine Forschungsstelle geschaffen werden, die das alles erschließt. So geschah es ja auch, als Berlin vor zehn Jahren aus Kiew den Nachlass der Sing-Akademie zurück erhielt. Da engagierte sich sofort die Deutsche Forschungsgemeinschaft und schuf zwei Arbeitsstellen. Da die Akademie der Künste sich nicht für Iffland interessiert, wäre es sinnvoll, die Forschungsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften anzusiedeln, wo es ja bereits eine Tradition der Iffland-Forschung gibt.

Die Welt: Wäre dieser Fund nicht auch ein Anlass, der Forderung nachzukommen, die ja von vielen Theaterenthusiasten erhoben wird, endlich in Berlin ein Theatermuseum einzurichten?

Wiedemann: Ja, es ist kaum zu fassen, dass es das nicht gibt. Doch was die Realisierung angeht, bin ich skeptisch: Berlin hat schon sehr viele Museen, das Geld ist knapp, und ich bezweifle auch, dass so ein Museum politisch gewollt ist.