Rezension: Bibliothek der Deutschen Sozialisten (AW)

  • Arbeit & Wirtschaft
  • 1 June 2002

Rezension in: AW - 06/2002 - 56. Jahrgang
Rezensent: Hugo Pepper

Eingemauerte Bücher. Wer im Bereich der Arbeiterbildung nach Sensationellem sucht, der wird in der Regel bald enttäuscht aufgeben, wenn er nicht bereits im Anlauf resigniert hat. Aber es gibt offenbar wirklich keine Regel, die nicht der Bestätigung durch die Ausnahme bedarf.

So galt es geraume Zeit als gesichert, dass sich in den USA kein Buchbestand ehemaliger deutscher Arbeitervereine befinde. Durch einen Zufall war es möglich, diese Annahme faktisch zu widerlegen. Der Umbau eines historischen Hauses in der Altstadt von Cleveland im Bundesstaat Ohio bot dazu die Gelegenheit. Ein bei Ford beschäftigter Elektriker hatte das 1860 von einem deutschen Einwanderer errichtete Steingebäude erworben und begann es - Stockwerk für Stockwerk - zu renovieren. Dabei stieß er hinter einer lockeren Täfelung auf ein vermauertas Gelass, in dem sich die dort verborgene Bücherei des "Sozialistischen Bildungsvereins Eintracht", einer Zweigorganisation der amerikanischen Sozialistischen Partei, fand, zu deren namhaftesten Mitgliedern zu Zeiten auch die Autoren Jack London und Upton Sinclair gezählt haben. Der legendäre Gewerkschaftsführer Eugene Debs hat 1912 als sozialistischer Präsidentschaftskandidat immerhin fast eine Million Stimmen erhalten.

“Some German Junk”

Der neue Eigentümer des ehemaligen Arbeitervereinshauses kam eher zufällig ins Gespräch mit dem bundesdeutschen Konsul in Cleveland, Peter Schoenwaldt, der später in Wien als Kulturattaché wirkte, wobei er zu einem der bedeutenden Förderer der großen Kurt-Tucholsky-Ausstellung im Künstlerhaus werden sollte. Schoenwaldt bekam zu hören, dass sich im Hause 4308, Franklin Boulevard, "some German junk" ("irgendein deutsches Glumpert") gefunden hätte - übrigens darunter auch Reste einer illegalen Whiskybrennerei aus der Alkoholverbotszeit ("Prohibition").

“Untergrund”

Der "German junk" erwies sich als ein Bücherbestand von sechshundert Bänden sowie einigen gebundenen Jahrgängen der deutschsprachigen Arbeiterzeitschrift "Echo", die nicht nur in Cleveland, sondern in ganz Ohio verbreitet worden war. Nach dem Kriegseintritt der USA 1917 geriet die pazifistische deutsche Arbeiterbewegung in den USA unter Druck, und in den frühen zwanziger Jahren - als Nachwirkung der Russischen Revolution - verfiel die gesamte politische und gewerkschaftliche Linke der Repression. Das war die Zeit, in der man in den Untergrund ging und die Bücher einmauerte, übrigens zusammen mit einem großen Marx-Porträt und einem Bild der Brüder Scheu aus Österreich. Noch 1912 waren von den 83.000 "Deutschstämmigen" in Cleveland mehr als 42.000 Österreicher.

Diese und weitere Angaben über die deutsch-amerikanische Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung sind dem sorgfältig gestalteten Band "Die Bibliothek der deutschen Sozialisten, Cleveland/Ohio. Eine wiederentdeckte Arbeiterbibliothek in ihrem zeitgenössischen Kontext" zu entnehmen, für dessen Herausgabe Peter Schoenwaldt gesorgt hat (Wien: Inlibris 2001). Es war dabei nicht nur ein Buchbestand von mehr als sechshundert Bänden in entsprechenden bibliographischen Details zu erfassen. Es wurden auch die wesentlichen zeitgenössischen Publikationen in knapp gehaltenen, informativen Inhaltsangaben erfasst.

“Union-Label”

Der so entstandene Katalog ist überdies reichlich illustriert, und man kann aus den faksimilierten Titelseiten entnehmen, dass der Buchbestand zum Teil aus dem deutschen Sprachraum importiert worden ist, aber großteils von deutsch-amerikanischen Druckereien hergestellt wurde, etwa in Chicago. Kennzeichnend ist, dass diese Bücher und Broschüren stets den obligaten "Union-Label", den gewerkschaftlichen Ursprungsvermerk, aufweisen. "Ein Rückblick aus dem Jahr 2001" - in Anlehnung an das fast gleichnamige Buch von Edward Bellamy, im Bestand der Clevelander Bibliothek - bietet eine umfängliche Einführung in die Geschichte der deutsch-amerikanischen Arbeiterbewegung, deren Fundament die politische Emigration nach der Niederlage der Revolution von 1848 gebildet hat.

Der Buchbestand ist in den Jahren zwischen 1845 und 1925 entstanden und gewachsen und dürfte etwas mehr Belletristik enthalten haben als schließlich aufgefunden worden ist. Darin finden sich nicht nur die marxistischen Klassiker und zeitgenössische politische Literatur, sondern auch ältere Publikationen aus der österreichischen Sozialdemokratie, vom Linksradikalen - als Anarchisten verschrieenen - Johann (John) Most über die Brüder Scheu bis zu Max Adler und Rudolf Hilferding ("Das Finanzkapital").

Auch Karl Kautsky ist mit einer erheblichen Anzahl seiner Werke vertreten. Überraschend taucht im Buchbestand der nachmalige österreichische Bundespräsident Michael Hainisch mit der schmalen Schrift "Der Kampf ums Dasein und die Sozialpolitik" auf, die er 1899 verfasst hat.

Terroristische Repression

Was da Mitte der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hastig eingemauert worden ist, drängt zur Frage nach den innenpolitischen Zuständen, die damals in den USA herrschten. Der Schock, den die Russische Revolution dem amerikanischen Besitzbürgertum angesichts einer sich zunehmend radikalisierenden Arbeiterbewegung in den USA versetzte, hatte zur terroristischen Repression geführt. Upton Sinclair hat die Situation in seinem Roman "100 Prozent" (übersetzt von der Österreicherin Hermynia zur Mühlen) treffend beschrieben: Kapital, Verbrechertum und Justiz bildeten eine unheilige Allianz zur Vernichtung der gewerkschaftlich und politisch organisierten Arbeitenden. Einen der Höhepunkte bildete der Prozess gegen die fälschlich des Raubmordes beschuldigten italienischen Einwanderer Sacco und Vanzetti: Er endete nach sieben Jahren mit einem doppelten Justizmord.

Die in den Büchern der Clevelander Arbeiterbücherei enthaltene Information bildet gewissenmaßen die Rampe, über die es in die nur im Umriss angedeutete soziale Tragödie ging, in deren Verlauf Bücher hinter Mauern verborgen werden mussten.