"Wittgenstein ist gestern Abend gestorben Brief folgt": Korrespondenzen aus dem Wittgensteinkreis

[Wittgensteinkreis]. Elizabeth Anscombe, Rudolf Koder u. a. 12 eigenh. Briefe mit U., 3 eigenh. Karten mit U., 2 ms. Aerogramme mit eigenh. U., 1 ms. Brief und 1 Telegramm.

Cambridge, Oxford, Wien u. a. O., 1926-1972.

Zusammen ca. 43 SS. Verschiedene Formate. Dabei: Widmungsexemplar von J. Zemperle, Zeit und Stunde. Ludwig Ficker zum 75. Geburtstag gewidmet (Salzburg: Otto Müller, 1956); Familienphotos Wittgenstein (Kopien); gedr. Todesanzeige von Ludwig Wittgenstein (Wien, 4. V. 1951); 1 Brief eines nicht identifizierten Absenders (I. Hertz?).

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Teilnachlass von Ludwig Wittgensteins langjährigem Freund Ludwig Hänsel (1886-1959) und seinem Sohn Hermann. Herzstück der Sammlung sind 6 Briefe, 2 Karten und 1 Telegramm von der bedeutenden Philosophin Elizabeth Anscombe (1919-2001), Schülerin Wittgensteins, an Ludwig Hänsel, die einen detaillierten Bericht von Wittgensteins Tod am 29. April 1951 enthalten. Hinzu kommen Briefe von Wittgensteins österreichischen Freunden: 4 von Rudolf Koder und 1 ms. Brief von Ludwig Hänsel an Wittgenstein, 2 eh. Briefe von Felix Braun and Ludwig und Hermann Hänsel, weiterhin 1 Briefkarte von Wittgensteins ältester Schwester Hermine (1874-1950) und je 1 ms. Aerogramm mit U. der amerikanischen Philosophin Alice Ambrose und des finnischen Philosophen Georg Henrik von Wright an Hermann Hänsel.

In den Monaten vor Wittgensteins Tod berichtet Anscombe von dessen Gesundheitszustand und seiner asketischen Lebensweise: "Nur habe ich Herrn Wittgenstein ein paar Mal in Oxford besucht. Das erste Mal war ich mit seinem Zustand nicht zufrieden, er sah - so schien es mir - sehr schlecht aus, und er fühlte sich gewiß nicht ganz wohl. Er versuchte viel zu diskutieren, aber alles war langsam und schwer. Seit dieser Zeit aber ist er plötzlich besser geworden und jetzt geht es ihm erstaunlich gut, obwohl, erinnert man sich an sein früheres ansehen [!], glaubt man daß er ziemlich fragile [!] sei. Ich bin überzeugt, daß die meisten Professoren sagen würden, daß er sehr streng lebt, wenn sie es nur sehen könnten. In einem kleinen Zimmer, das jemand für ihn reinigt, aber sonst macht er alles für sich selbst. Er könnte wohl klagen, schreibt er mir, besonders weil die Wände nicht dick genug sind. Die anderen Leute im Haus haben gelernt nicht viel lärm zu machen, aber es ist nicht möglich daß er keine Störung empfindet. Trotzdem trägt er alles sehr mild und freundlich und klagt fast nie [...]" (Oxford, [Sommer 1950]). Ende November 1950 zog der an Prostatakrebs erkrankte Wittgenstein zu seinem Arzt Edward Bevan: "Gewiß wissen Sie, daß es dem Herrn Wittgenstein gar nicht gut geht - aber daß [!] darf ich nur Ihnen sagen, weil Sie es schon wissen. Jetzt bleibt er hier in Cambridge bei seinem Arzt [...]. Es geht ihm besser als vor einigen Wochen; im Jänner war er sehr krank und hat ziemlich viel Schmerz gehabt. Er war immer sehr ausdauernd [...]" (Oxford, 13. März 1951).

Am 30. April 1951 benachrichtigte Anscombe per Telegramm Hänsel vom Tod Wittgensteins: "Wittgenstein ist gestern Abend gestorben Brief folgt." Im angekündigten undatierten Brief berichtet sie ausführlich über den Tod des Philosophen: "Herr Wittgenstein ist in der letzten Woche seines Lebens fast frei von Schmerz durch die Röntgenstrahlen-Behandlung geworden, aber er war zu schwach und hinfällig die geringste Krankheit zu überleben. Er hat ziemlich viel gearbeitet, eine geistige Activität lebte plötzlich wieder auf. Er schrieb weiter bis 27. April. An diesem Tag ist er spazieren gegangen, es ist in dieser Zeit plötzlich kalt gewesen (es war davor sehr warm) und er ist spazieren gegangen ohne sich warm genug anzuziehen. Er hat eine 'gastro-enteritis' bekommen [...] und ist nach 2 Tagen gestorben. [...] Am Samstag Abend, wissend daß er bald sterben würde, hat er es erlaubt, daß sein Arzt seine Freunde aus Dublin, Derby und Oxford zu ihm ruft und, so hat der Arzt uns gesagt, hat Freude daran gehabt, als er wüßte daß wir kamen. Wir alle sind zu ihm am Sonntag angekommen [...] Er war den ganzen Tag fast bewußtlos, während einige [!] Momente würde er von Zeit zu Zeit erwachen [...] aber er konnte nicht sprechen. Er wußte, so glaube ich, daß wir da waren. Er wollte immer, daß man die Hand haltet und so haben wir den ganzen Tag gewacht. [...] Der Priester ist zu ihm gekommen und hat ihm die bedingte Absolution gegeben und ist dort mit uns betend geblieben bis zum Ende [...]" (Oxford, o. D.). In den beiden nach Wittgensteins Tod verfassten Briefen geht es um dessen Nachlass und die Publikation der "Philosophischen Untersuchungen", die 1953 auf deutsch und in Anscombes englischer Übersetzung erschienen sind.

Alice Ambrose beschreibt in ihrem Brief an Hänsels Sohn Hermann ihre Rolle im engsten Kreis Wittgensteins bei der Entstehung der berühmten "Blue and Brown Books": "Professor G. H. Wright has suggested to me that you might be interested in my intellectual-biographical portrait of Dr. Ludwig Wittgenstein which has just appeared in a book of essays, Ludwig Wittgenstein: Philosophy and Language [...] I was one of a small group to whom Wittgenstein dictated The Blue Book, and it was to Francis Skinner and me that he dictated The Brown Book. My study covers the three-year period I had with him in Cambridge (1932-35), a period about which little is written [...]" (Northampton, MA, 8. April 1972).

Die Briefe des Musiklehrers Rudolf Koder stammen aus der Zeit unmittelbar nach dem berüchtigten Vorfall Haidbauer in Otterthal im April 1926. Nachdem Wittgenstein einen seiner Volksschüler geschlagen und dieser das Bewusstsein verloren hatte, quittierte er sofort den Dienst und kehrte nach Wien zurück. Zur Strafverfolgung kam es nach einer gerichtlichen Anhörung in Gloggnitz nicht. Wittgenstein blieb bis 1929 in Wien, wo er als Gärtnergehilfe in einem Kloster in Hütteldorf arbeitete, und kehrte dann nach Cambridge zurück. Koder war einer von Wittgensteins Kollegen in Puchberg gewesen und sollte ihm freundschaftlich verbunden bleiben. In einem Brief, der auf Mai 1926 datiert werden kann, geht er auf Wittgensteins Situation ein und berichtet, dass sein Austritt aus dem Schuldienst wider Erwarten wenig Aufsehen erregt hat: "Du wirst doch auch leichtere Arbeit haben, wenn die Umstecherei einmal vorüber ist, oder geht das immer so weiter? Hast du die Zuschrift vom Gericht schon bekommen? Dein Austritt ist über Otterthal u. Puchberg hinaus nicht weiter bekannt geworden. Peham [?] in Ternitz z. B. hat nichts gewusst, obwohl er doch in der Nähe des Inspektors ist. Dieser muss vielleicht Ursache haben, das geheim zu halten. Denn sonst wird doch so etwas gleich an die grosse Glocke gehängt [...]". 1936 besuchte Wittgenstein die Region wieder, um sich bei mehreren Schülern, die er geschlagen hatte, zu entschuldigen.

Insgesamt in gutem Zustand mit vereinzelten Einrissen, Braunflecken und Knitterfalten. Das Aerogramm von Wright mit tieferem Einriss durch Brieföffnung.

References

Ilse Somavilla, Ludwig Hänsel - Ludwig Wittgenstein: eine Freundschaft. Briefe, Aufsätze, Kommentare (Innsbruck: Haymon, 1994).

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