"Das Jüdische: es hat - erlauben Sie mir, dem Juden (und Nicht-nur-Juden), es so zu formulieren - eine Ewigkeitsdimension"

Celan, Paul, Lyriker (1920-1970). 2 eigenh. Briefe mit (einer) U.

Verbier, Kanton Wallis, Schweiz, und Paris, 5. und 25. VII. 1957.

Zusammen (2+4 =) SS. auf 3 Bll. Mit einem eh. adr. Kuvert und einigen Beilagen (s. u.).

 12,000.00

An den niederländischen Komponisten Jaap Geraedts, der sich 1957 an Celan gewandt hatte mit dem Vorschlag, dieser möge den Text zu einem geplanten Oratorium verfassen. Geraedts, der selbst weder Jude noch Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes war, hatte ausdrücklich nach einem jüdischen Dichter gesucht und sich schließlich gegen die ihm vom jüdisch-niederländischen Schriftsteller und Historiker Jacques Presser empfohlenen Dichter Maurits Mok und Abel Jacob Herzberg und stattdessen für Celan entschieden, der als Verfolgter und Augenzeuge aus der eigenen Tradition heraus den Text beisteuern sollte. "Für die Abfassung des Konzeptplans in deutscher Sprache braucht Geraedts einige Tage, aber bereits am 25. Mai wendet er sich mit einem Brief an Paul Celan, in dem er sich vorstellt, sein Vorhaben skizziert und die Anlage erläutert. Es werden noch vier Briefe folgen sowie ein Schreiben von Geraedts' Mutter [...], die Celan während ihres Aufenthalts in Paris ein Gespräch vorschlägt und ihn ebenfalls eindringlich bittet, ihrem Sohn zu antworten" (Sars, S. 9).

Am 5. Juli antwortet Celan aus dem schweizerischen Verbier: "Ihr erster Brief, den ich, wenn ich nicht irre, einen Tag vor meiner Abreise aus Paris erhielt, hat mich auch hierher begleitet. Daß ich ihn so lange unbeantwortet ließ, hat seinen Grund einzig darin, daß er mir zu wichtig erschien, als daß ich ihn mit meiner auf Reisen recht geduldlosen Feder hätte beantworten dürfen. Auch heute noch muß ich mir sagen, daß ein Anliegen wie das Ihre, soll es, wie es dies verdient, mit allem Lebensernst aufgenommen werden, an meine Konzentrationsfähigkeit Ansprüche stellt, denen ich, im Augenblick zumindest, nicht ganz gewachsen bin [...] Wenn ich meine Einstellung kurz charakterisieren darf: für mich bleiben diese Dinge, auch heute noch, in ein Dunkel getaucht, tiefer als man es gemeinhin wahrhaben will, ich sehe, wenn ich ehrlich sein soll, keinerlei 'Silberstreifen' am Horizont, Besinnung und Umkehr bleiben, wo sie überhaupt noch angesprochen werden, papierene Wirklichkeit, Vokabel, und dies selbst im Lager derjenigen, die gewillt scheinen, das vor kurzen historischen Augenblicken Geschehene im Gedächtnis zu bewahren [...] Ich will versuchen, es auch anders zu formulieren: ein Oratorium, wie das von Ihnen geplante müßte, für mein Gefühl, zeitlich umfassender (mithin unbegrenzter) gestaltet sein, als man es, auf den ersten Blick, konzipieren mag. Das Jüdische: es hat - erlauben Sie mir, dem Juden (und Nicht-nur-Juden), es so zu formulieren - eine Ewigkeitsdimension. (Und wäre es nur die schier ununterbrochene Untergangsnähe: sie allein würde ausreichen, dies zu bestätigen.)".

An dieser Stelle endet der Brief, den Celan zusammen mit dem zweiten Brief, den er am 25. Juli aus Paris schreibt, an Geraedts schickt: "Sie müssen mich, mit vollem Recht, für einen ganz unmöglichen Menschen halten! Verzeihen Sie dennoch! Ich habe - der beiliegende, nicht zu Ende geschriebene Brief soll es Ihnen zu beweisen versuchen - immer wieder an Ihren Brief gedacht, meine Säumigkeit schreibt sich, so seltsam das auch klingen mag, einzig von der Sorge her, mit meinen Gedanken weit hinter dem zurückzubleiben, was Ihnen am Herzen liegt [...]". Celan sichert Geraedts zu, versuchen zu wollen, "den Text zu schreiben, den Sie von mir erwarten". Anschließend unterbreitet er den Vorschlag eines Treffens und legt Geraedts "das Werk einer bedeutenden jüdischen Dichterin" ans Herz, "die in Stockholm lebt. Es ist das Werk von Nelly Sachs [...]".

Im März des darauffolgenden Jahres kommt es auch zu einer persönlichen Begegnung von Celan und Geraedts in Paris, doch aus der angedachten Zusammenarbeit sollte schlussends nichts werden.

Beide Briefe im linken Rand gelocht (keine Textberührung), ein Brief mit einer kleinen Rostspur durch eine Büroklammer. Beiliegend eine ms. Postkarte und ein ms. Brief von Celans Verlag, der Deutschen Verlags-Anstalt, an Geraedts sowie 3 (2 ms. und 1 eh.) Briefe (samt 2 Kuverts) von diesem an Paul Sars, dem Herausgeber des kleinen Briefwechsels von Celan und Geraedts.

References

Paul Celan, Jaap Geraedts. Keinerlei "Silberstreifen" am Horizont. Der Briefwechsel des Dichters mit dem Komponisten. Herausgegeben und kommentiert von Paul Sars (Wien u. a. O, 2013).

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