"Vielleicht sind meine Ohren zu nah am Gehirn": Cosima Wagner und ihre Halbschwester Claire de Charnacé

Wagner, Cosima, Tochter Franz Liszts und zweite Gattin von Richard Wagner (1837-1930). 2 eigenh. Briefe mit U. "Cosima" und 1 eigenh. Brief.

[Berlin], 19. IX., 23. X. und 12. XI. 1863.

Zusammen 12 SS. auf Doppelblättern. 8vo.

 3,800.00

Inhaltsreiche französischsprachige Briefe aus der Korrespondenz mit ihrer Halbschwester Claire de Charnacé (1830-1912) in Paris. Im Brief vom 19. September berichtet Cosima von Problemen bei einem Umzug, von ihrer aktuellen Lektüre und dem Vorhaben einer Rezension der Briefe Goethes an Charlotte von Stein, die sie "so sehr gefesselt haben", für die "Revue germanique". Die Werke ihrer entfremdeten Mutter Marie d'Agoult, die unter dem Pseudonym Daniel Stern publizierte, schloss Cosima von ihrer Lektüre aus: "Wenn ich einen Moment habe, lese ich sehr gutes oder sehr instruktives und irre ich mich, wenn ich D. St. keiner dieser Kategorien zuordne?" - Am 29. Oktober schreibt Cosima unter anderem über eine Krankheit ihrer ältesten Tochter Daniela "aus dem Zimmer, in dem sie leidet", und darüber, wieviel ihr die Briefe der Halbschwester bedeuten: "Jeder Ihrer Briefe ist eine Wohltat, es ist für mich, wie einen Lufthauch aus unserem Geburtsland zu erhalten. Diesen Begriff fasse ich ganz metaphysisch auf; Sie repräsentieren für mich die Heimstätte, in der viele meiner Laren vergraben sind, wundern Sie sich deshalb nicht, dass ich immer Lust habe, Ihre Briefe postwendend zu beantworten, auch wenn ich Ihnen nichts Besonderes zu sagen habe." Dennoch sah sie aufgrund der beruflichen Situation ihres Mannes Hans von Bülow keine Möglichkeit, nach Paris zurückzukehren: "Mit dem Erfolg unseres musikalischen Instituts sehe ich irgendein Dirigat kommen, und dann heißt es Adieu zu jedem Ortswechsel, Adieu sogar zu jedem Ausflug, denn wir werden die Hände voller Verpflichtungen haben [...]". In einer Bemerkung zur Oper, die bereits stark von den Ansichten Wagners geprägt ist, kritisiert sie die "Italiener" und die junge Adelina Patti: "Sie frequentieren noch immer die Italiener; können Sie noch immer Lucia, Trovatore, Sonnambula hören? Ich verzichte gern auf sie, ich verschmähe sogar die hübsche Patti, auf die Blumen und Lorbeer regnen. Vielleicht sind meine Ohren zu nah am Gehirn." Zuletzt lobt Cosima in höchsten Tönen die ungarisch-österreichische Schauspielerin Lilla von Bulyovsky, die 1863 die "Doña Diana" in Augustín Moretos gleichnamigem Stück in Berlin spielte. Allerdings sei das Zusammenspiel mit ihren "germanischen Partnern, die jenen Szenen, die der spanische Poet bewegend und schmerzhaft wollte, einen komischen Anstrich geben", "sehr schwierig, fast unmöglich" gewesen.

Der jüngste Brief in der Sammlung vom 12. November 1863 hebt an mit Überlegungen zur Mode, denen Cosima ausführliche Kommentare zu Napoleon III. und der politischen Situation in Europa mit einer unerwarteten Konklusion folgen lässt: "Euer Kaiser lässt den schikanösen Kammern keine Ruhepause, er lehnt den Kongress der Prinzen [congrès princier] ab. Wenn ich mich nicht irre, kommt der Krieg schnellen Schrittes. Die Rede vor den Kammern und die Einladung zum Kongress sind zwei Handlungen von singulärer Tragweite, und ich bin der Meinung, dass er zum vierten oder fünften Mal Europa hereingelegt hat. Ob es einem gefällt oder nicht, er hat leichtes Spiel, sei es, dass er der Einzige oder der Erste ist, der die Reform der Welt gefordert hat, die Partie ist gleichermaßen gut für ihn, und er wird als Apostel oder Förderer des Fortschritts gesehen. Wir hier sind nicht so bauernschlau, die Rede Wilhelms war zugleich unbedeutend und verletzend, die Abneigung erreicht damit ihren Gipfel, keine Entrüstung, keine Flammen. Einzig die Arbeiterfrage schreitet unaufhaltsam voran und droht, alles zu überlaufen. Dem Sozialismus gehört das letzte Wort; wird es möglich sein, dass dieses Wort nicht blutig ist?" Abschließend berichtet Cosima von dem englischen Löwendompteur Thomas Batty, der gerade in Berlin auftrat.

Leicht gebräunt und fleckig.

Stock Code: BN#58740 Tag: