Der Albtraum eines Philologen: Max Ernsts dadaistische Überarbeitung der Übersetzung eines literarischen Frühwerks

Ernst, Max, Maler (1891-1976). "Autophoto". Eigenh. Manuskript und eh. Brief mit U. "Max".

Seillans, 1968 [Poststempel].

Zusammen 1¼ SS. und 1 Skizze auf 3 Bll. 4to. Mit eh. adressiertem Umschlag und einem Manuskript des Übersetzers Robert Valençay.

 4,500.00

Korrektur der französischen Übersetzung eines dadaistischen Selbstzeugnisses des Künstlers für die Schriftenausgabe "Écritures" (Paris, Gallimard, 1970), das ursprünglich 1921 unter dem Titel "Max Ernst" in der Zeitschrift "Das Junge Rheinland" erschienen war. Der Brief an den Übersetzer Robert Valançay ist unmittelbar der Übersetzung angefügt, die dieser Ernst übermittelt hatte. Ernst berichtet, dass er die Übersetzung nach der Rückkehr aus Italien, wo er sich "im Schlamm gewälzt hat", vorfand, und befindet diese als "nicht so schlecht" (Übs.); er habe sich aber "ein paar kleine Änderungen erlaubt". Diese neue Version ist in Ernsts Hand auf einem separaten Blatt beigefügt. Auf einem dritten Blatt mit Anmerkungen Valençays zu dessen Übersetzung hat Ernst eine Skizze des Sternbilds Großer Bär angefertigt, in der die Sterne Alkor und Mizar benannt sind, die im Text Erwähnung finden.

Das "Selbstbildnis" erweckt zunächst den Anschein eines prahlerischen autobiographischen Texts, der jedoch bald durch dadaistische Elemente ad absurdum geführt wird. So verleiht sich Ernst den Spitznamen "Spitzer Hahnenfuß" und behauptet, dass er mit 12 Jahren das Elternhaus verlassen habe, "um den halbwüchsigen Eisenbahnen und den wichtigsten Seezungen nachzujagen". Der Text ist ein dadaistisches Kunstwerk eigenen Rechts, und Ernst nutzt seine Korrekturen der Übersetzung Valençays für weitere Variationen des Absurden.

Zwei Sätze, die als Beschreibung seiner künstlerischen Praxis von großem Interesse sind, durchlaufen besonders spannende Transformationen. Der deutsche Text "Seine Farbgebung ist manchmal durchlocht und manchmal röhrenförmig" wurde von Valençay möglichst verständlich mit "Son coloris est parfois percé de trous et parfois en forme de tuyaux" übersetzt. Ernsts Korrektur ist auf den ersten Blick originalgetreuer, doch dürfte es ihm vor allem an der Alliteration gelegen sein: "Son coloris est parfois perforé, parfois tubulaire." Besondere Schwierigkeit bereitete Valençay der Folgesatz: "Seine Stoffausscheidung ist voller Pflanzen und Tierreste", den er mit "Le matériau qu'il secrète est plein de plantes et de restes d'animaux" übersetzte und mit einer Anmerkung versah. Ernst wirft in seiner Überarbeitung jedoch die "Stoffausscheidungen" über den Haufen und ersetzt sie durch "concrétions". Diese Änderungen können als ironische Anspielung auf die Konkrete Kunst interpretiert werden, die Max Ernsts künstlerischer Praxis denkbar fern stand. Beim Satz "Das Weib ist ihm ein mit weißem Marmor belegtes Brötchen" wurde Ernsts Überarbeitung "Pour lui, la femme est un sandwich en marbre blanc" nicht für die französische Publikation des Textes übernommen, sondern Valençays wörtliche Übersetzung beibehalten. Erwähnenswert ist auch Ernsts Beharren auf der fehlerhaften Schreibweise "Aktor" (dt. im Original) bzw. "Actor" (Überarbeitung) statt des richtigen "Alcor" in Valençays Übersetzung. Als abschließendes Beispiel für Ernsts kreative Überarbeitung sei der letzte Satz genannt: Robert Valençay übersetzt das Original "Sein Wendekreis ist Blütenraub" mit "Son tropique est un pillage d'arbres en fleur", woraus bei Ernst der poetische Satz "Son tropique est le rapt du cérisiér fleuri" wird.

Wohlerhalten.

References

Publiziert in: Max Ernst, Écritures (Paris, Gallimard, 1970), S. 7 f.; deutsches Original in: Das junge Rheinland, Heft 2, Düsseldorf, 2.11.1921.