"Alle Gemeinheit der Menschen ist dann vergessen"

Nordau, Max, Kulturkritiker und Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation (1849-1923). Eigenh. Brief mit U.

Paris, 7. V. 1894.

4 SS. (Doppelblatt, im Falz durchgerissen). 8vo.

 1.500,00

An einen unbekannten Adressaten, der ihn nach seinen "inneren Beziehungen zur Musik" befragt hatte: "Hochgeehrter Herr, Wenn ich Ihre Frage nach meinen inneren Beziehungen zur Musik erschöpfend beantworten wollte, müßte ich Ihnen eigentlich eine bis ins Einzelne gehende Geschichte meines Lebens und Selbstcharakteristik liefern, da die Musik thatsächlich mit meinem ganzen geistigen Werden und Sein auf das Innigste verflochten ist. Ich beschränke mich darauf, Ihnen zu sagen, daß das Schöne mir zuerst in musikalischer Gestalt entgegengetreten ist. Mein erstes Gedicht schrieb ich, zwölf Jahre alt, nachdem ich die Mondschein-Sonate gehört hatte, die man mir, auf meine ungestüme Bitte, dreimal hintereinander hatte vorspielen müssen. Als ich, fünfzehn Jahre alt, Mozarts 'Don Juan' zum erstenmal hörte, floh der Schlaf mich drei Nächte lang und ich glaubte fortwährend die Orchesterbegleitung zum Auftreten der Statue des Kommandeurs zu hören. Ich glaube nicht, daß ich jemals eine Aufführung der Neunten Symphonie versäumt habe, wenn sie an meinem Wohnort stattfand; und doch fürchte ich sie eigentlich, denn sie wühlt mich in allen Tiefen so furchtbar auf, daß ich tagelang nicht zur Ruhe komme; so wirkt sie noch heute auf mich, obschon ich jeden Takt von ihr auswendig kann. Ich führe ein Leben des Kampfes und erfahre viel Bitteres und Schmerzliches. Es gibt aber die Empörung, den Zorn, die Kränkung nicht, die nicht sofort verschwänden, wenn mir meine Schwester ein Lied von Schumann, etwa 'Ich grolle nicht' oder 'Aus meinen Thränen sprießen' singt. Alle Gemeinheit der Menschen ist dann vergessen, mein eigenes Ich löst sich in Liebe und Wollaut [!] und mir ist, als wäre ich auf irgend einem Stern, himmelweit von allen Leidenschaften und Interessen, die sonst das Gewebe meines Daseins bilden. Aus der Musik quellen mir unvergleichliche Tröstungen und Anregungen. Der Drang, den wogenden, unbestimmten Emotionen, welche die Musik in mir wachruft, eine feste Form zu geben, hat oft genug meinem Schaffen die Richtung gewiesen. Um nur ein Beispiel anzuführen: mein Roman 'Die Krankheit des Jahrhunderts' ist wesentlich aus der Stimmung hervorgegangen, in die mich einmal das unter eigenthümlichen Umständen gehörte Lied 'Freut euch des Lebens' versetzt hat. Um meine Anschauungen kurz zusammenzufassen: ich würde es, trotz meiner mannigfachen anderen geistigen Interessen, für die erschreckendste Verarmung meines Lebens halten, wenn ich auf Musik verzichten müßte. Glauben Sie, hochgeehrter Herr, an die vorzügliche Hochachtung Ihres ergebensten Dr. M. Nordau".

Nordau war seit 1892 Mitstreiter Herzls; seit 1880 wohnte er als praktischer Armenarzt und Gynäkologe in Paris. 1897 Organisator des Basler ersten Zionistenkongresses, war er Hauptautor des sog. Basler Programms und eine der führenden Gestalten der frühen zionistischen Bewegung.

In lila Tinte; kleine Randeinrisse.

Art.-Nr.: BN#37974 Schlagwort: