"Eigentlich ist es doch immer am besten, gar nicht zu antworten und immer neue und bessere Musik zu bringen"

Mendelssohn Bartholdy, Felix, Komponist (1809-1847). Eigenh. Brief mit U.

Ostende und London, 29. V. und 3. VI. 1842.

3 SS. auf Doppelblatt. Gr.-4to. Mit eh. Adresse (Faltbrief).

 24.000,00

"Auf das Dampfboot wartend, das meine Frau und mich nach England bringen soll", um dort seine Schottische Sinfonie zu dirigieren, schrieb Mendelssohn den vorliegenden Brief an den Musikkritiker Alfred Julius Becher, der angeboten hatte, Mendelssohn gegen eine Kritik Heines zu verteidigen: "Aber warum fangen Sie auch einen ersten Brief seit langer Zeit von einem faulen ovo an, nicht lieber von irgend einem frischen, wohlschmeckenden? Ich weiß nicht, was das für ein Artikel von Heine ist, von dem Sie sprechen, und habe mich also erst darüber geärgert, weil Sie mir schrieben, daß Sie es gethan hätten. Sie wollen so freundlich sein, mich wieder dagegen zu vertheidigen; aber bitte thun Sie das doch nur im Falle er so gut oder so böse ist, daß Sie dergleichen geradezu nothwendig finden - auch nach reiflicher Überlegung nothwendig finden. Eigentlich ist es doch immer am besten, gar nicht zu antworten und immer neue und bessere Musik zu bringen [...]".

Bechers Bitte, einen Artikel über das Niederrheinische Musikfest zu schreiben und an der "Wiener Allgemeinen Musik-Zeitung" mitzuarbeiten, muss Mendelssohn ablehnen, "weil ich gar zu lebhaft fühle, daß es mir unmöglich ist; eben auch weil ich in ähnlichen Fällen (namentlich bei Breitkopf & Härtels) mich so hartnäckig dagegen gewehrt habe auch nur meine Meinung zu sagen oder einen Rath zu geben".

Einige Irrtümer und Gerüchte gelte es zu berichtigen, etwa "daß ich für Paris eine Oper schreibe und daß Scribe mir einen Text dazu gemacht hat [...] Kommt denn diese Nachricht auch aus der allgemeinen Zeitung? Dann scheint sie sichs ja recht angelegen sein zu lassen, mir Unwahrheiten nachzusagen, denn eben daher kam eine Nachricht mit der mich vor kurzer Zeit alle Menschen quälten und verdrossen: daß ich mich um die ThomasCantorstelle [!] in Leipzig bewärbe, und die und die Mitbewerber hätte, und die und die Schritte gethan hätte. Da war auch keine wahre Sylbe daran, und das verdroß mich eben [...]".

Was jedoch stimme, sei, dass er fortwolle aus Berlin (wohin er 1841 als Kapellmeister von Friedrich Wilhelm IV. berufen worden war), "denn ich liebe das Leben dort nicht und bin verfremdet mit den Menschen und dem Wesen. Aber ich sehe nicht ein, wie ich wieder fortkommen solle, da auf mehrere Versuche und Anfragen der Art mir der König die Antwort gegeben hat, ich möge thun was ich wolle und auch nicht thun, was ich wolle, nur in Berlin wohnen bleiben solle ich, darauf bestände er. Daß ich mit der Oper nichts zu thun bekomme, ist jedenfalls bestimmt, das Wahrscheinlichste ist mir aber, daß ich überhaupt nichts da zu thun bekomme, und auf das ganze dortige Musiktreiben ohne den geringsten Einfluß bleibe [...] es ist doch nur der Egoismus, der da zum Bleiben räth, und gerade an dem leidet alles in Berlin, und gerade durch den ist alle Musik dort so entsetzlich undeutsch und entartet geworden [...]".

Ein Jahr später hatte Mendelssohn dann schließlich doch Berlin hinter sich gelassen und gründete in Leipzig das Conservatorium, die erste Musikhochschule Deutschlands, die er am 3. April 1843 in den Gebäuden des Gewandhauses eröffnete.

J. A. Becher sollte einige Jahre später einer der Hauptführer des Wiener Oktoberaufstands von 1848 sein und nach dessen Niederwerfung von einem Standgericht zum Tod verurteilt werden.

Bl. 2 mit wenigen winzigen Einrissen in den Faltungen.

Provenienz: J. A. Stargardt, Kat. 508 (5. Mai 1953), Nr. 67; Dr. Otto Liebmann; Antiquariat Hinterberger, Wien.

Literatur

Mit geringfügigen Abweichungen gedruckt in: Renate Federhofer-Königs, "Der unveröffentlichte Briefwechsel Alfred Julius Becher (1803-1848) - Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847)", in: Studien zur Musikwissenschaft 41 (1992), SS. 7-94 (Nr. 20a).

Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe. Hrsg. und kommentiert von Susanne Tomkovic u. a. Bd. 8, Nr. 3533.

Art.-Nr.: BN#59389 Schlagwort: