"Frauen können mehr als Männer"

Kafka, Franz, Schriftsteller (1883-1924). Eigenh. Briefentwurf.

[Wohl Prag, Anfang Januar 1922].

3½ SS. auf 2 Bll. rautiertem Papier. 8vo. In Bleistift.

 65.000,00

Unveröffentlichter Briefentwurf an "Fräulein Irene", d. i. Irene Bugsch: "Nun sind Sie also Weihnachten nicht zuhause gewesen. Ich hätte mich natürlich gefreut Sie zu sehn (und meine Schwester auch, welche Nachrichten von Ihnen fast mit gleicher Spannung erwartet wie ich) und in Matlar hätte man sich gefreut und oben Ihr Zimmerchen ausgeschmückt, aber wäre es gut gewesen? Sind Sie schon genug fest [?] in Dresden um sich der Lockung der Heimat aussetzen zu dürfen? Man glaubt etwas erarbeitet zu haben, etwas zu besitzen und kommt in eine andere Umgebung und sieht dass man gar nichts hat, dass alles verfrüht war dass es nur Täuschung war. Gar wenn diese andere Umgebung die alte Heimat ist mit ihrer entsetzlichen Macht. Am Ende wären Sie von Matlar nicht wieder fortgegangen (freilich Klopstock ist noch dort, sie fortzuschicken). Und ausserdem: Sie haben doch bisher soweit man es von der Ferne sehen kann, (freilich man sieht von der Ferne gar nichts und es ist sehr dumm so zu schreiben) fast ohne Kampf alles erreicht, solche Schulerfolge - es sind Erfolge, das ist kein Zweifel - Erfolge in der Schule und bei Menschen - und schon wollen Sie sich belohnen und nachhause fahren? Nicht früher, liebes Fräulein Irene, ehe nicht Rade zu einer Zeichnung sagt: 'Die ist aber ganz miserabel.' Freilich, wenn Sie darauf warten sollten kämen Sie vielleicht niemals nach hause [...] Die Ansichtskarte bringt mir wieder zu Bewusstsein, was für einen riesigen Sprung (nicht der Höhe nach, ich will nicht beurteilen, aber der Entfernung nach) Sie liebes armes Fräulein in so kurzer Zeit haben machen müssen, etwa aus der Ausstellung des Hauptmann Holub bis zu dieser Ansichtskarte. Frauen können mehr als Männer. Mich nehme ich dabei übrigens nicht zum Vergleich, ich habe, trotzdem ich einmal Kunstkritiker der Karpathenpost war, überhaupt, wie ja viele Menschen wahrscheinlich, keinen primären Blick für die bildende Kunst. Ich liebe an Bildern nur die Liebe, die sie in Menschen primären Blicks erweckt haben (soweit ich diese Menschen erfassen kann) Und das braucht Zeit. Gegenüber dem Bild von Klee z. B. bin ich fast gleichgültig. Die Farben würden wohl nicht viel ändern. Ach, Rade (trotzdem ihm wahrscheinlich Klee gar nicht gefällt) würde mir niemals sagen [bricht ab]".

Irene Bugsch, die Tochter von Aladár (Alexander) Bugsch, einem der Mitinhaber des Sanatoriums in Matliary, gehörte neben ihrer Schwester Margarete und Robert Klopstock zu Kafkas engerem Freundeskreis während seines halbjährigen Kuraufenthalts (18. Dezember 1920 bis etwa 26. August 1921) in der Tatra. Damals sechsundzwanzigjährig, hatte sie sich im Herbst 1921 um die Aufnahme an der Dresdner Kunstakademie (später Staatliche Akademie für Kunstgewerbe) beworben und war dabei von Kafka, der sie allerdings für vollkommen untalentiert hielt, unterstützt worden.

Hauptmann Anton Holub, ein tschechischer Offizier, war wie Kafka und sein Freund Klopstock Patient des Sanatoriums in Matliary und dilettierte als Musiker und Künstler; eine Ausstellung seiner Landschaftsbilder hatte Kafka anonym und nicht ganz ernsthaft im April in der deutschsprachigen "Karpathen-Post" besprochen (Jg. 42, Nr. 17 vom 23. IV. 1921).

Carl Rade lehrte als Professor an der Kunstgewerbeakademie Dresden und stand dort u.a. den Fachklassen für Porzellanmalerei, für Textilkunst und der Modeklasse vor.

Etwas angestaubt, gebräunt und knittrig, der Text ist im Großen und Ganzen jedoch einwandfrei lesbar.

Art.-Nr.: BN#61545 Schlagwort: