Widmungsblatt für Marie Buloz: "Das Glück ist eine tolle Dirne"

Heine, Heinrich, Dichter (1797-1856). Eigenh. Gedichtmanuskript, zweisprachig mit zweifacher U. ("Heinrich Heine", "Henri Heiné").

Paris, 19. III. 1853.

1 S. Tinte und Bleistift auf Velinpapier. Dreiseitiger Goldschnitt. Folio.

 70.000,00

Schräg über ein Folioblatt kräftiges Velinpapier eine Niederschrift des wohl zwischen Ende 1848 und 1851 entstandenen und 1851 im "Romanzero" veröffentlichten Gedichts "Das Glück ist eine leichte Dirne", in Tinte, entgegen der Behauptung der kritischen Ausgaben (die sich auf eine unvollständige Abschrift stützen mussten) mit mehreren Abweichungen gegenüber der Druckfassung: "Das Glück ist eine tolle Dirne / Sie weilt nicht gern am selben Ort, / Sie streicht das Haar dir von der Stirne / Und küßt dich rasch und flattert fort. // Frau Unglück hat im Gegentheile / Dich [gestrichen: liebend] zärtlich an ihr Herz gedrückt; / Sie sagt sie habe keine Eile, / Und setzt sich an dein Bett und strickt. // Heinrich Heine / (moribond connu sous le nom de / Henri Heiné[)]." Das die "Lamentationen" des großen Spätwerks "Romanzero" als Motto eröffnende Gedicht, das nicht nur Heine'sche Lebensthemen verdichtet, sondern auch die elende Lage des ans Bett gefesselten ehemaligen Freundes der Musen und Waldfeen selbstironisch kommentiert, setzt im Druck noch "leichte" statt "tolle", "Und weilt" statt "Sie weilt", "liebefest" statt "liebend" oder "zärtlich" sowie "Setzt sich zu dir an’s Bett" statt, wie vorliegend, "Und setzt sich an dein Bett". Neben den deutschen Text hat Heine in Bleistift eine eigene Übertragung gesetzt ("Mademoiselle bonne fortune est une fille très legère [...]") und unter dem Vermerk "Traduction" das Blatt datiert: "Paris le 19 Mars 1853". An jenem Tag hatten François Buloz, Herausgeber der "Revue des Deux Mondes", und seine Frau Marie den schwerkranken Dichter besucht; für die Gattin fertigte Heine diese Niederschrift an. Das Blatt galt als verschollen, war aber überliefert durch eine Abschrift nur der französischen Übersetzung (nebst einer Beschreibung des ganzen Blatts) von unbekannter Hand in der Slg. Spoelberch de Loevenjoul, Musée de Chantilly, die zugleich den Gesamtausgaben als Textgrundlage gedient haben muss.

Ein seltenes eigenhändiges Blatt Heines aus den letzten Jahren seiner "Matratzengruft": Seit Jahren schrieb Heine fast ausschließlich durch Sekretärshand; erst am Vortag hatte er seiner Mutter Betty Heine in Hamburg mitgeteilt: "[...] Du beklagst Dich, daß ich nicht eigenhändig schreibe; thue das nicht mehr, sonst werde ich Dir eigenhändig schreiben, welche Anstrengung mir aber jedesmal 3 Tage Migräne kosten würde. Wenn ich nur im geringsten meine Augen anstrenge, so habe ich gleich meinen alten Kopfschmerz und Du weißt, was das sagen will. Wenn ich schreibe, d. h. wenn ich eigenhändig schreibe, so geschieht das immer mit einem Bleistift und kommt sehr unleserlich heraus [...]". Entgegen dieser Erklärung zeigt dieses als Geschenkblatt verfasste kleine Manuskript, dass Heine in Momenten der Besserung und zumindest über Strecken weniger Zeilen auch noch die Feder sehr sauber zu handhaben verstand. Noch die Heine-Säkularausgabe betrachtete es als "wenig wahrscheinlich, daß Heine 1853 acht Verse mit Tinte schrieb", und spekulierte (ohne das Autograph autopsieren zu können), die deutsche Fassung stamme womöglich von fremder Hand.

Bleistift etwas verrieben; kleine rote Farbspur im Bereich der Tinte. Insgesamt vorzüglich erhalten.

Literatur

Heine, Werke, Säkularausgabe, Bd. 3, Kommentar, bearb. von R. Francke (Berlin 2008), S. 244f. ("verschollen"). Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 3/2 (Hamburg 1992), S. 734f. ("verschollen"). Erstdruck: Heine, Briefwechsel. Reichvermehrte Gesamtausgabe, hg. von Friedrich Hirth, Bd. 3 (Berlin 1920), S. 334f., Nr. 990 (nur französischer Text nach der Abschrift); erneut: Heine, Briefe. Erste Gesamtausgabe nach den Handschriften, hg. von Friedrich Hirth, Bd. 3 (Mainz 1952), S. 459f., Nr. 1189 (im zweisprachigen Paralleldruck; der deutsche Text nach der abweichenden Druckfassung fingiert). Erstdruck des Gedichts: Heine, Romanzero (Hamburg: Hoffmann & Campe, 1851), S. 118.

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