Die Welt von Gestern: Album mit Einträgen der bedeutendsten deutschen und österreichischen Schriftsteller, Musiker und Schauspieler der Zeit

[Autographenalbum]. Autographenalbum der Alice Wagner (1914-1982).

Wien, 1925-1934.

40 Bll. (davon einige weiß) mit zus. ca. 90 Einträgen von Schriftstellern, Musikern und Schauspielern sowie von Familienmitgliedern, Lehrern und Mitschülerinnen. Lederband der Zeit mit goldgepr. Deckelbordüre. Dreiseitiger Goldschnitt. 4to (196 x 244 mm).

 9.500,00

Schönes, durch eine verblüffende Anzahl hochkarätiger Einträge herausragendes Dokument jugendlicher Autographensammelleidenschaft aus der von Stefan Zweig beschriebenen Wiener "Welt von Gestern".

Alice Wagner, acht Tage vor dem Attentat von Sarajevo im damals österreichischen Zadar (Kroatien) geboren, verbrachte als Tochter des Maschinenbauers Rudolf Wagner und dessen Gattin Anna ihre Kindheit im 9. Wiener Gemeindebezirk. Die frühesten Beiträger ihres Albums - anscheinend ein Geschenk zum 11. Geburtstag - sind Lehrer, Schulfreundinnen und Verwandte, und nach einem guten Dutzend dieser zwischen 1925 und 1929 entstandenen Einträge scheint Alice' Interesse an ihrer Sammlung ein gutes Jahr lang erlahmt zu sein. Dann jedoch, als knapp Siebzehnjährige, findet sie eine neue Bestimmung für den Band: sie widmet ihn ihrer neu entfachten Theater- und Opernbegeisterung und ergattert noch im Jahr 1931 die Unterschriften von Käthe Dorsch und Hans-Heinz Bollmann sowie von Anton Wildgans und Christa Winsloe, die - ungeachtet des geltenden Jugendverbots - ihrer jungen Verehrerin die aktuelle Verfilmung ihres Hauptwerks "Mädchen in Uniform" empfiehlt.

Aus dem Jahr 1932 stammen allein 37 datierte Einträge, darunter internationale Prominenz wie Thomas Mann, Ernst Toller, Erich Kästner und Jakob Wassermann, aber auch Wiener Größen wie Stefan Zweig ("immer derselbe und niemals der gleiche!"), Felix Braun, Felix Salten, Richard Beer-Hofmann, Max Mell, Franz Theodor Csokor, Ernst Lothar, Franz Lehár, Robert Stolz, Hans Moser, Otto Tressler und sogar der Mediziner Julius Wagner-Jauregg. Den kuriosesten Eintrag liefert der nach jahrelanger "freier Ehe" mittlerweile längst auch legal glücklich verheiratete Alexander Roda-Roda, der sich am 4. August um genau 19.27 Uhr als "Verlobte[r]" der eben 18-jährigen Alice Wagner einträgt. Unter diese Widmung setzt sich humorvoll am 28. April 1933 Fritz Grünbaum als "Trauzeuge" ein, darunter wiederum am 10. Oktober 1933 der Schauspieler Paul Morgan. Zu den weiteren Beiträgern der Jahre 1933/34 zählen Max Brod, Arnold Zweig, Attila Hörbiger, Tilla Durieux, Oskar Maria Graf und Paula Wessely; undatierte Eintragungen stammen außerdem von Ernst Deutsch und Max Pallenberg, von Bruno Walter, Karl Schönherr und Ferdinand Bruckner.

Nach 1934 versiegen die Beiträge, möglicherweise ebenso veränderten Interessen der nun 21-jährigen Alice Wagner geschuldet wie den immer stärkeren Zwängen des Wiener Kulturlebens erst im austrofaschistischen Ständestaat und dann nach dem nationalsozialistischen "Anschluss". Am 9. März 1939 wurde die jüdische Familie Wagner zwangsweise aus der bürgerlichen Ayrenhoffgasse in ein "Judenhaus" im 3. Bezirk übersiedelt, in dem ausschließlich jüdische Mieter auf engstem Raum zusammenleben mussten. Die österreichischen Opferdatenbanken der Shoah verzeichnen für ihre Adresse Untere Weißgerberstraße 5, Tür 7, allein sechs Ermordete im Alter zwischen 7 und 71 Jahren, die alle im November 1941 nach Minsk bzw. November 1942 nach Auschwitz deportiert wurden. Alice Wagner entging dem Schicksal ihrer Mitbewohner (das auch das einiger ihrer Albumbeiträger war, etwa ihrer "Trauzeugen" Fritz Grünbaum und Paul Morgan): Noch im Juli 1941 heiratete sie einen 40-jährigen Rumänen, verließ Wien und gebar im März 1942 eine Tochter. Wie die Familie die weiteren Kriegsjahre überlebte, ist nicht bekannt; sie kehrte aber Anfang 1947 nach Wien zurück und wohnte anschließend in der Wiener Berggasse, unweit von Sigmund Freuds alter Praxis. Auch ihre Eltern überlebten den Holocaust. Alice Wagner starb mit 67 Jahren in Wien; ihr Album gibt Zeugnis von der letzten Blüte Wiener Kultur vor dem Untergang.

Detailliertes Verzeichnis der Beiträger auf Anfrage.