Rezension: Bibliotheca Lexicorum (BFP)

  • Bibliothek. Forschung und Praxis
  • 1. Oktober 2003

Rezension in: Bibliothek. Forschung und Praxis, Jahrgang 27 (2003) Nr. 3
Rezensent: Gerd-J. Bötte


Bibliotheca lexicorum. Kommentiertes Verzeichnis der Sammlung Otmar Seemann. Eine Bibliographie der enzyklopädischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, unter besonderer Berücksichtigung der im deutschen Sprachraum ab dem Jahr 1500 gedruckten Werke, bearb. von Martin Peche. Hrsg. von Hugo Wetscherek. Wien: Inlibris, 2001. 708 S. Ill. (Katalog / Antiquariat Inlibris; 9). 70.00 € – ISBN 3-9500813-5-6


Im Zeitalter der weltweit verfügbaren und vielfach vernetzten elektronischen Informationsressourcen zählen konventionelle Konversationslexika und vielbändig gedruckte Enzyklopädien zu den aussterbenden Arten. Den „Wert und den Nutzen alter Lexika“1 als erstrangige Quellen der Kulturgeschichte kann man indes kaum überschätzen. „Enzyklopädien und Universallexika bieten umfassende Querschnitte durch alle Lebensbereiche zu bestimmten Zeiten. In diesen Werken ist festgehalten, was einer Zeit als wissenswürdig gilt, d.h. sie registrieren nicht nur den jeweils aktuellen Wissensstand in den verschiedenen Sachgebieten, sondern auch den Stand des öffentlichen Interesses an diesem Wissen.“2 Damit sind sie zugleich als Protokolle des Zeitgeistes oder besser: des Geistes der Zeiten zu lesen. Darüber hinaus sind die alten Lexika und Enzyklopädien „nahezu unerschöpfliche Reservoirs historischer Informationen, die in neueren Nachschlagewerken nicht mehr zu finden sind. [...] Auf jeder Seite eines alten Lexikons lassen sich Informationen finden, die das neue nicht mehr kennt.“3

Dem Faszinosum der Gattung „Lexikon“ ist der Wiener Zahnarzt, Bibliograph und Bücherfreund Otmar Seemann4 in besonderer Weise erlegen. Seine im Laufe der Jahre zusammengetragene, mehr als 12 000 Bände umfassende Sammlung wurde auf der Stuttgarter Antiquariatsmesse im Januar 2001 geschlossen verkauft. Der fast drei Pfund schwere Verkaufskatalog verzeichnet zum einen den eigentlichen Katalog der Seemann’schen bibliotheca lexicorum mit insgesamt 610 Einträgen – von „A“ wie Wilhelm Eugen von Adolfis Juristischem Konversations-Lexikon (Berlin 1917) bis „Z“ wie Theodor Zwingers Magnum theatrum vitae humanae (Köln 1631). Darauf folgen summarische Angaben zum Archiv Seemann (bestehend unter anderem aus Arbeitsbibliothek, Bildarchiv und Korrespondenz), eine chronologische Übersicht der verzeichneten Lexika sowie ein als „Personenregister“ bezeichneter Index, der jedoch nicht nur die Verfasser und Bearbeiter der Lexika sowie die in den jeweiligen Kommentaren erwähnten Personen nachweist, sondern auch Körperschaften wie Verlagsnamen und dergleichen.

Der zweite, auf Seite [551] beginnende Hauptteil des Katalogs ist mit „Bibliographie“ überschrieben und bietet ein Verzeichnis der verwendeten allgemeinen Nachschlagewerke sowie ein stolzes 3316 Positionen umfassendes „numeriertes Verzeichnis der verwendeten Sekundärliteratur“, das leider ohne erkennbares Ordnungsprinzip präsentiert und erst durch das beigegebene Autoren- und Herausgeberregister leidlich benutzbar wird.

Der Schwerpunkt der Sammlung Otmar Seemanns liegt im Bereich der deutschsprachigen Allgemeinenzyklopädien und -lexika, deren Geschichte sie in eindrucksvoller Geschlossenheit dokumentiert. So sind beispielsweise sämtliche Ausgaben des Brockhaus-Lexikons von der raren Erstausgabe aus dem Jahr 1796 bis hin zur 19. Auflage, die 1986 bis 1994 in 24 Bänden erschien, nachgewiesen und beschrieben (#61-#88). Selbstverständlich umfasst Seemanns Sammlung auch eine komplette Auflagenfolge von Johann Hübners „Zeitungslexikon“, durch dessen 3. Ausgabe aus dem Jahr 1708 der Begriff „Konversationslexikon“ in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeführt wurde.

Was den Katalog der Seemann'schen Sammlung auszeichnet, sind zum einen die ausführlichen und akribischen bibliographischen Beschreibungen, die im Falle der Ersch-Gruber'schen Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste (1818-1889) schon einmal fast zehn Seiten einnehmen können; zum anderen sind es die kenntnisreichen Kommentare und Erläuterungen Seemanns,die diesem ungewöhnlichen Verkaufskatalog seinen dauerhaften bibliographischen Nutzwert verleihen. Zu den vielen Detailinformationen zählen unter anderem die Angabe der Auflagenhöhe, der Ausstattungsvarianten und der Originalpreise. So erfährt man beispielsweise, daß die 15. Auflage des Großen Brockhaus auch in einer Tropenausgabe lieferbar war, und zwar für 26,10 Mark, mithin zum gleichen Preis wie die im schwarzen Halbledereinband ausgelieferte Standardausführung.

Von besonderem Wert sind die Ausführungen zu den „Verwandtschaftsbeziehungen“ der Lexika untereinander; Strukturanalysen und Detailvergleiche charakterisieren Konkurrenzunternehmungen und identifizieren Plagiate und Raubdrucke. Als ein interessantes Beispiel von vielen sei auf die bei Manz in Regensburg zwischen 1846 und 1850 erschienene Allgemeine Real-Encyclopädie5 verwiesen, die sich ausweislich ihres Sachtitels als Conversationslexikon für das katholische Deutschland verstand. Seemann belegt minutiös, wie sehr sich das von Wilhelm Christian Binder herausgegebene Werk – in inhaltlicher Hinsicht nur knapp am Plagiat vorbeisegelnd – auch im Hinblick auf die äußere Form (Aufmachung, Satz, Art und Anzahl der Stichworte) an den großen Konkurrenten anlehnte. Befund: „Man könnte die Manzsche Real-Enzyclopädie geradezu als eine katholische Ausgabe des Brockhaus-Lexikons bezeichnen.“6 Hilfreich sind auch die in den Kommentaren gegebenen Hinweise auf Reprint- oder Mikrofiche-Ausgaben wichtiger Lexika, die nicht in jeder Bibliothek im Original zur Verfügung stehen. Auch hier hat sich Seemann selbst in den vergangenen Jahren als Herausgeber zusammen mit dem Harald-Fischer-Verlag (Erlangen) Verdienste erworben. Angesichts der heutigen technischen Möglichkeiten wird man für den überregionalen Zugriff allerdings verstärkt für die konsequente Digitalisierung einschlägiger Werke plädieren7.

Otmar Seemanns Sammlung ist verkauft, der Katalog seiner bibliotheca lexicorum jedoch ist von bleibendem Wert und sollte in den bibliographischen Handapparaten wissenschaftlicher Bibliotheken nicht fehlen.


Anschrift des Rezensenten:
Gerd-J. Bötte
Staatsbibliothek zu Berlin –
Preußischer Kulturbesitz
Abt. Historische Drucke
D-10102 Berlin


[1] Fietz, Rudolf: Über den Wert und den Nutzen alter Lexika. In: Informationsmittel für Bibliotheken 3 (1995) 2, S. 445-452; als elektronisches Dokument verfügbar unter Homepage.

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Homepage (Alle Kassen!).

[5] Bibliotheca lexicorum, Eintrag Nr. 4, S. 11-13.

[6] Ebd. S. 12.

[7] Den Nutzen und Mehrwert digitaler Versionen illustriert schon jetzt beispielhaft Zedlers Universal-Lexicon ; gespannt sein darf man auch auf das Ergebnis der in Trier betriebenen Retrodigitalisierung der Krünitz'schen Enzyklopädie .