Rezension in: Neue Zürcher Zeitung, 4. März 2006, S. 52
Rezensent: Paul Jandl
Stefan Zweigs edles Laster
Dass es "mit dem Sammeln" vorbei sei, weil man jetzt Mühe genug habe, "sich selber zu sammeln", schreibt Stefan Zweig 1935 aus seinem Londoner Exil. Kurz darauf wird ein Grossteil seiner wertvollen Autographensammlung an den Schweizer Martin Bodmer verkauft. In den Handschriften grosser Geister hat der Autor der "Welt von Gestern" eine "spektrale Gegenwart" gesehen, und fünf Jahrzehnte lang hat er ein Vermögen geopfert für diesen immateriellen Besitz. Ob Goethe, Luther, Casanova, Leonardo da Vinci, Beethoven oder Thomas Mann - rund tausend Manuskripte und Reliquien gehörten einmal zu Stefan Zweigs Sammlung. Wo der Präzisionsfanatiker Zweig stets gescheitert ist, dort kommt der Historiker und Zweig-Kenner Oliver Matuschek jetzt ans Ziel. Mehr als sechzig Jahre nach dem Freitod des Schriftstellers legt er jetzt den ersten Gesamtkatalog der Sammlung vor. "Ich kenne den Zauber der Schrift" ist das Buch nach einem Zweig-Zitat betitelt. Es ist ein philologischer Glücksfall und eine Fundgrube dazu. Was nicht nur an den zahllosen Abbildungen handschriftlich fortlebender Dichter und Denker liegt, sondern auch an Matuscheks Essay zur Geschichte von Stefan Zweigs schillernder Kollektion. Mit ironischer Distanz wird dort Zweigs edlem Laster begegnet, es wird das Wertvolle gewürdigt, aber auch das Kuriose. "Rarissimum" vermerkte Stefan Zweig 1933 auf der Katalogkarte eines Objekts, das er soeben für viel Geld erworben hatte. Das Konzept einer aussenpolitischen Ansprache von Adolf Hitler findet sich als Katalognummer 333 in der Sammlung direkt vor Friedrich Hölderlins Handschrift des Gedichts "An die Deutschen".