Grandioses Zeugnis für Berliner Selbstvergessenheit

  • Die Welt
  • 8 January 2014
  • Tilman Krause

Und wieder eine Hauptstadtposse: Einer der bedeutendsten Nachlässe der deutschen Klassik lagerte Jahrzehnte lang bei einem Privatmann. Keine der großen Kulturinstitutionen interessierte sich dafür.

Erinnert sich noch jemand an Charlotte von Mahlsdorf? Das war die Dame (oder der Herr; wie man's nimmt), die nach der Wende ein paar Jahre lang in den Fernsehshows herumgereicht wurde als Vorzeige-Transvestit der untergegangenen DDR. Vor allem aber genoss Charlotte von Mahlsdorf Notorietät als Gründerzeitmöbel-Fan.

Ein ganzes Museum hatte sie in Mahlsdorf bei Köpenick eingerichtet für die schaurig schönen, maschinell gefertigten und in Serie hergestellten Einrichtungsgegenstände aus der Zeit zwischen 1871 und 1900, die der Kunsthistoriker unter "Historismus" abbucht und meist dem Verdikt der Geschmacklosigkeit anheim fallen lässt.

Wo hatte Charlotte sie nur her? Aufgesammelt, abgeräumt und mit dem Rollwägelchen nach Hause gefahren, wo immer irgendetwas Altes zerstört oder abgerissen wurde, behauptete sie. Keiner wollte ja den Kram haben. Da habe sie einfach zugelangt. Und nun, das war wohl klar, gehörten die Vertikos und Paravents, die Tizian-Kopien, Blumenkübel, Grammophone sowie die komplette Inneneinrichtung einer Turner-Destille in der Ackerstraße ihr. Wem sonst?

Hugo Fetting ist die neue Charlotte von Mahlsdorf

So oder so ähnlich muss man sich auch den Hergang der neuesten Hauptstadtposse vorstellen. Mit einiger Sicherheit dürfte sie, in Analogie zum Münchner Kunstfund des Cornelius Gurlitt, als Berliner Theaterfund des Hugo Fetting in die Annalen eingehen.

Worum handelt es sich? Nun, um den Nachlass August Wilhelm Ifflands. Namensgeber des berühmten Iffland-Ringes, der bedeutendsten Auszeichnung für Theaterschauspieler im deutschsprachigen Raum.

Der renommierte Berliner Germanist und ausgewiesene Kenner der deutschen Klassik, Professor Conrad Wiedemann, charakterisiert ihn gegenüber der "Welt" wie folgt: "Hier handelt es sich um einen der bedeutendsten Nachlass-Funde der Nachkriegszeit. Vergleichbar dem Nachlass der Zelter'schen Singakademie, der auch lange als verschollen galt. Er war nach Russland verschleppt wurden. Die Stadt Kiew gab ihn vor einigen Jahren der Stadt Berlin zurück."

Ein Nachlass von 34 Bänden und 6000 Schriftstücken

Der Unterschied ist freilich der, dass der Iffland-Nachlass, bestehend aus sage und schreibe 34 Bänden und ca. 6000 handgeschriebenen Schriftstücken, immer, bis vor ganz Kurzem, in Berlin geblieben war. Und damit die Korrespondenz des Schauspieler und Berliner Theaterintendanten in der Zeit von 1796 bis 1814 mit August Wilhelm Schlegel, August von Kotzebue, Johanna Schopenhauer, um nur einige Zelebritäten der Zeit zu nennen.

Merkwürdigerweise ist darunter nichts von Schiller, dessen "Canaille" Franz Moor Iffland in der Uraufführung der "Räuber" verkörpert hatte. Und auch von Goethe, mit dem er in regem Austausch stand, ist nur ein Brief erhalten. Aber gut. Allein die Dokumente zur Berliner Theatergeschichte und Aufführungspraxis um 1800 sind so sensationell, dass sie bereits die höchste Aufmerksamkeit der Berliner Kulturinstitutionen hätten erheischen müssen. Doch das war offensichtlich nicht der Fall.

Aus den Trümmern gerettet?

So konnte denn Hugo Fetting seine Hand drauf halten. Er habe "die Sachen per Zufall im Sommer 1953 in der Oberwallstraße in den Trümmern der ehemaligen Generalintendanz der Preußischen Staatstheater gefunden und mit nach Hause genommen", zitiert jetzt der Berliner "Tagesspiegel" den Neunzigjährigen. Fetting fügt hinzu, er fühle sich "völlig im Recht als Finder und Eigentümer, nachdem sich über 50 Jahre niemand bei mir gemeldet hat."

Wie Charlotte von Mahlsdorf hat in diesen 50 Jahren aber auch Hugo Fetting nun keineswegs wie Haffner in Richard Wagners "Ring des Nibelungen" nach dem Motto "Ich lieg und besitz. Lass mich schlafen" gehandelt, sondern er hat mit seinem Pfunde immer wieder gewuchert.

Sprich, er hat zu Iffland publiziert und zum Beispiel 1978 mit einer Arbeit über das Repertoire des Berliner Königlichen Nationaltheaters unter der Leitung Ifflands promoviert. Mit anderen Worten: Man hätte schon mal auf die Idee kommen können, bei Fetting anzufragen, wo denn die vielen Quellen zu Iffland sich befinden, in denen er sich so gut auskennt.

Die Akademie wollte nur einen Finderlohn geben

Dass die ganze Geschichte jetzt ruchbar wurde, liegt daran, dass Fetting, darin nun wiederum Cornelius Gurlitt ähnlich, offenbar vor einiger Zeit auf den Gedanken kam, seinen "Besitz" zu Geld zu machen. Wie die "Süddeutsche Zeitung" berichtet, bot er die 34 Bände zunächst der Berliner Akademie der Künste zum Verkauf an.

Die winkte ab. Wie Archivdirektor Wolfgang Trautwein der "Welt" erklärte, war man allenfalls bereit, Fetting einen "Finderlohn" zu zahlen; die Sache erschien einfach zu dubios.

Vielleicht hätte Fetting auch besser getan, das Riesen-Konvolut der Stiftung Berliner Stadtmuseen anzubieten. Die beherbergt die größte theatergeschichtliche Sammlung Deutschlands. Jedoch: "Zu uns ist niemand gekommen", versichert die Direktorin Martina Weinland.

Erinnerungen an den Fontane-Nachlass

Sie hat mit plötzlich wieder auftauchenden, verschollen geglaubten deutschen Kulturgütern ihre Erfahrung: "Mich erinnert der Berliner Theaterfund an den Fontane-Nachlass, den wir 1972 aus Polen zurückerhielten", kontextualisiert sie die Causa Iffland jetzt gegenüber der "Welt". Den Iffland-Nachlass hier zu bewahren, wäre umso einleuchtender, als er vor 1945 zum Bestand des Museums der Staatlichen Theater gehört hatte, wo er seit 1929 sogar öffentlich ausgestellt war – im Berliner Stadtschloss!

Doch möglicherweise wollte sich Fetting in Berlin nicht noch eine weitere Abfuhr holen. Jedenfalls wendete er sich nun ans Ausland. Verhandelte mit dem Wiener Antiquariat Inlibris. Das wollte die geforderten 70.000 Euro nicht berappen. Bot aber 50.000 an, was Fetting akzeptierte. Und bietet das gesamte Konvolut nun für das knapp Zehnfache auf der Ludwigsburger Antiquariatsmesse an.

Erst als der Ludwigsburger Katalog heraus war, wurde Berlin endlich hellhörig. Das sei "Kulturgut von nationalem Rang", es müsse in Berlin verbleiben, ließ sich nun Berlins Kulturstaatssekretär André Schmitz vernehmen. Und tatsächlich: Inzwischen hat sich die Berliner Kulturbehörde mit dem Antiquar aus Wien geeinigt, dass das "Kulturgut von nationalem Rang" nun doch nicht im Schwabenländle unters Hämmerle gelangt.

Schafft endlich ein Berliner Theatermuseum!

Doch damit der Merkwürdigkeiten nicht genug: Inzwischen wurde auch bekannt, dass die Akademie der Künste, die für Inlibris ein Provenienzgutachten erstellte, dem Antiquriat ein "Eigentumsrecht" attestiert, obwohl ihr der Vorbesitzer nicht geheuer erscheint und sie bei Iffland "von der Archivsystematik her gar nicht zuständig" ist, wie Trautwein versichert.

Was lernen wir daraus? Wohl zweierlei. Um es mit den Worten von Martina Weinlands zu sagen: "Nach Einschätzung der Stiftung Stadtmuseum Berlin, die seit vier Jahren aktive Provenienzrecherche ihrer Sammlungsbestände betreibt, zeigt auch der jüngste Fall des wieder aufgetauchten Iffland-Konvoluts, das sich Recherchen nicht nur auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut und den tatsächlichen historischen Zeitraum 1933 bis 1945 beschränken sollten. Vielmehr ist es nun an der Zeit sich ebenso intensiv mit dem Verbleib von Kunstbeständen nach 1945 – vor allem Vermögenswerten aus der ehemaligen staatlichen Verwaltung der DDR – zu beschäftigen und deren Verbleib zu recherchieren."

Aber darüber hinaus gilt es auch, das Desinteresse Berlins an seiner großen Theatergeschichte anzuprangern. Seit Jahren bemüht sich ein Verein in der Hauptstadt, von vielen Intendanten, Künstlern, Liebhabern unterstützt, hier endlich ein den Traditionen der Stadt würdiges Theatermuseum zu errichten – und erntete doch weitestgehend Hohn und Spott.

Es wäre jetzt, mit der Causa Iffland, ein Anlass gegeben, über eine solche Initiative noch einmal gründlich nachzudenken. das Mindeste jedoch, im Fall, dass Berlin den Iffland-Nachlass zurückerhält, wäre, an einer der Berliner Akademien eine Iffland-Forschungsstelle einzurichten. Denn auch eine solche gibt es bislang nicht. Soviel Geschichts- und Selbstvergessenheit ist wohl in keiner anderen europäischen Kapitale denkbar.