Rezension: Bibliothek der Deutschen Sozialisten (Germanistik)

  • Germanistik
  • 31 December 2001

Rezension in: Germanistik. Internationales Referatenorgan mit bibliographischen Hinweisen. 42 (2001) 3/4. S. 373-373.
Rezensent: Claude D. Conter, Bamberg


Wie eine Arbeiterbibliothek vor dem Ersten Weltkrieg ausgesehen hat, ist in der Lese- und Arbeiterforschung bislang anhand von Bestandsaufnahmen und Verz. rekonstruiert worden. Nunmehr liegt eine Arbeiterbibliothek als physisch-materielles Ensemble vor. Zufällig ist 1970 ein während der Prohibitionszeit versteckter Raum mit einer aus der zweiten Hälfte des 19. Jh. gegründeten Arbeiterbibliothek entdeckt worden, deren kommentierte Katalogisierung jetzt zugänglich ist. Die Systematisierung der Bücher und Zeitschriften, der Aufbau des Bestandes und vor allem die auf Grund einmontierter Ausleihzettel in den Publika ermöglichte Auswertung der Lektüregwohnheiten gibt Aufschluß über die Lesevorlieben der deutschamerikanischen Arbeiter und über die bibliopädagogischen Bemühungen der Bibliothekare. M. Atze weist in seinem Essay darauf hin, daß die propagandistische sozialistische Bildungsparole "Wissen ist Macht, Macht ist Wissen" und das vor allem in der Literatur geprägte Bild des lesenden Arbeiters konfligiert mit den lesesoziologischen Bedingungen: Die schwindende Lesezeit bei einem mehr als Zehn-Stunden-Arbeitstag und das Bedürfnis nach einer eskapistischen, von den Strapazen erholenden Leseerfahrung sind nur zwei Kennzeichen der sozialistischen Arbeiterbibliothek in Amerika, deren Organisation und Benutzung auch plausible Erkenntnisse über die Arbeiterbibliotheken im Wilhelminischen Reich zulassen. - Auffallend sind beispielsweise das geringe Interesse an den zahlreich vorhandenen theoretisch-marxistischen, politischen und gesellschaftswissenschaftlichen Büchern zu Gunsten von belletristischer, publikumswirksamer Unterhaltungsliteratur: F. Reuter, H. Sudermann oder der Utopist E. Bellamy. Für die empirische Leser- und Arbeiterforschung ist der Katalog mit 100 Abb., 14 Artikeln aus der Wochenzeitung der Clevelander Sozialisten Das Echo und einem Interview mit dem deutschen Diplomaten P. Schoenwaldt, der die Bibliothek 1970 erworben hat, eine wichtige Materialsammlung, die zudem eine notwendige Ergänzung und Grundlage für die Lesersoziologie und die Bibliothekswissenschaften ist.