"Immer weniger gleiche ich dem verspielten Knaben, der ich so gern war, und - verzeih - ich verschmerze das Unwiederbringliche schwerer als es einem erlaubt sein mag, der zu wissen glaubt, wie ein Auge im Dunkel strahlt"

Celan, Paul, Lyriker (1920-1970). 12 eigenh. Briefe mit U.

Paris, 1949/1950.

Zusammen 26½ SS. auf 16 Bll. 4to und 8vo. Mit 1 eh. adr. Kuvert.

 48,000.00

Vertraute Briefe an die junge Sängerin Diet Kloos-Barendregt (1924-2015), die Celan im August 1949 auf der Terrasse des Cafés Dupont kennengelernt hatte, wo ihr die "Memoires d'une âne" von Sophie de Ségur vom Schoß gefallen waren. Der 29-jährige Dichter und die 25-jährige Musikstudentin aus Dordrecht waren ins Gespräch gekommen: über ihren Widerstand gegen die deutschen Besatzer, ihre Gefangenschaft und den Mord an ihrem Ehemann Jan Kloos, der im Jänner 1945 in Amsterdam standrechtlich erschossen worden war; über die Ermordung von Celans Eltern, über die Zwangsarbeit und seine Flucht aus Rumänien. Nach ihrer Rückkehr entspann sich ein knapp einjähriger Briefwechsel, von dem zwar nicht ihre eigenen Briefe, dafür aber die hier vorliegenden Celans erhalten geblieben sind.

"Ich weiß nicht, wie spät es jetzt ist, jedenfalls ist es noch Nacht, das heißt es ist noch dunkel, wenn es auch schon Morgen ist - wieviel Uhr also? Umsonst, ich kann es nicht sagen, denn meine Uhr steht still, mein valet de chambre ließ sie gestern beim Aufräumen des Zimmers fallen, ich habe also, wenn ich so sagen darf, keine Zeit - endlich! und die Glocken der Kirchen geben nur schlechten Bescheid, sie sind zu zahlreich [...] sie stimmen nicht überein, ihre Glockenschläge folgen rasch aufeinander, es ist, wenn Du willst, dreißig oder zweiunddreißig Uhr, eine Stunde aus verschiedenstem Silber, ein aufmerksames, hellhöriges Ohr könnte unterscheiden, helles und deutliches von dunklem, undeutlichem Silber trennen und so die Zeit erfahren, aber mein Ohr ist träge, absichtlich, damit meine Hand umso reger wird, wenn mir endlich die Zeit abhanden gekommen ist. All das ist ein Glück für mich, der ich doch mit meiner Zeit nichts Rechtes anzufangen weiß - was tat ich bislang, wenn ich Zeit hatte? Ich wartete auf die Zeit [...] Alles ist zu schwer, weil alles zu leicht ist" (23. VIII. 1949).

"Was ich brauche, was ich so dringend brauche, eben deshalb, weil ich so oft von mir weg muß, auf Reisen gehen muß - und wie unbequem ist dieses Reisen: ich selber bin dabei reglos, wechsle nicht den Ort, die Welt aber saust unter meinen Füßen vorbei! - was ich also brauche, ist das Gefühl, daß es bei all diesem Hin und Her einen Ausgangspunkt gibt, der, wenn er auch nie wieder erreicht werden kann, dennoch bestehen bleibt - ein solcher Ausgangspunkt wären meine Gedichte, wenn ich sie in Sicherheit wüßte, sauber abgedruckt und gebunden" (6. IX. 1949).

"Ich bin im Begriffe, mein Leben anders, hoffentlich besser einzurichten als bisher und meinen, in den letzten Wochen etwas deutlicher werdenden Jahren Rechnung zu tragen. Ich glaube, Du hast mal die Linien meiner Hand angesehen, Diet; so wirst Du Dich vielleicht erinnern, daß meine Lebenslinie zweimal abreißt, um sich in zwei voneinander getrennten kleineren Linien fortzusetzen. Nun, mir will scheinen, daß ich gerade da stehe, wo dies zum zweitenmal geschieht, wo ich mich von mir selber abspalte, Gott weiß zu welchem Zweck. Immer weniger gleiche ich dem verspielten Knaben, der ich so gern war, und - verzeih - ich verschmerze das Unwiederbringliche schwerer als es einem erlaubt sein mag, der zu wissen glaubt, wie ein Auge im Dunkel strahlt" (21. IX. 1949).

"Und über allem, schwebend und dabei doch so lastend, der Alltag, die Rundfahrt durch die Welt des täglichen Brotes. Und unter allem, verborgen, kaum hörbar, aber quälend auf unterirdische Art, der Traum von der Unendlichkeit, nie verwirklicht, kaum geahnt, unerreicht. Und dazwischen: Ich, Paul Celan, ein Mann, der vielleicht doch noch ein Baum wird, wenn der Abend es will [...]" ("Dienstag abend", wohl 29. XI. 1949).

Im linken Rand gelocht und teils mit kleineren Randläsuren, sonst gut erhalten.

References

Paul Celan: Du mußt versuchen, auch den Schweigenden zu hören. Briefe an Diet Kloos-Barendregt. Handschrift - Edition - Kommentar, hg. von P. Sars u. L. Sprooten (Frankfurt a. M., 2002). P. Sars (Hg.), "Alles is te zwaar, omdat alles te licht is". De brieven van Paul Celan aan Diet Kloos-Barendregt. Übs. von C. O. Jellema (Amsterdam, 1999).

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