"Stil ... es weiß eben nicht Jeder, was das ist: nicht einmal alle Mitarbeiter des Börsenblattes für den deutschen Buchhandel"

Mann, Thomas, Schriftsteller (1875-1955). Eigenh. Brief mit U. (Initialen).

München, 20. II. 1901.

2 SS. Gr.-4to. Auf Briefpapier mit Briefkopf "Thomas Mann".

 7,800.00

An seinen Jugendfreund, den späteren Kunsthistoriker und Romanisten Otto Grautoff (1876-1937): "Lieber G.: Besten Dank für das Börsenblatt mit Deinem artigen Aufsatz [d. i. "Die Ex-libris-Sammlung des Grafen zu Leuningen-Westerburg" im Börsenblatt f. d. dt. Buchhandel 68 (1901), S. 1421-24]. Ich werde mich aber besinnen, ob ich Paul Ehrenberg damit ennuyiren soll; ich fürchte, all diese anspruchsvolle und graue Theorie würde ihn nur verwirren und kopfscheu machen. Laß ihn aus! Er wird schon in netter Weise etwas Hübsches zustande bringen. Was er ungefähr machen soll, muß er sehen; das Dociren ist da nicht am Platze. [Zwei Wörter getilgt] Übrigens will ich ihn fürs Erste nicht mahnen, sondern warten, bis er von selbst auf die Sache zurückkommt.

Nein, meine Laune war nicht schlecht, als ich gestern nach Hause ging. Ich hielt es kurz nach 11 Uhr nur vor Müdigkeit nicht länger aus und verabschiedete mich. Übrigens hatte ich Dich ja auf mein Verschwinden vorbereitet. Ich war lange Zeit mit Ehrenbergs, Junghans [der Kunstakademieschüler Julius Paul Junghanns] und den Amerikanern zusammen. Junghans ist ein sehr angenehmer Mensch: das Genre Paul Ehrenberg, soweit ich gesehen habe, nur viel stiller. Bist Du schließlich noch einmal mit Ehrenbergs zusammengetroffen? Ich konnte mich bedauerlicher Weise nur von Carl verabschieden, der am Tische saß, während Paul, den ich vergebens gesucht hatte, sich gerade auch seinerseits auf der Suche nach mir befand [...] Herr Gott, nein, ich verachte Dich nicht! Wie kommst Du darauf! Wenn Du mir einen großen Gefallen thun willst, so sprich nur von dem pfiffigen kleinen Geschöpf, das von Deinem schönen Herzen Besitz ergriffen hat, nicht mehr als von 'Deinem Mädel'. Denn erstens ist diese Bezeichnung ja nicht zutreffend und zweites wirkt sie auch gar zu zusammenziehend. Im Übrigen bin ich überzeugt, daß Du Dich kolossal falsch benommen hast. Die Franzosen sagen: Wenn der Deutsche graziös sein will, so springt er zum Fenster hinaus. Etwas Ähnliches gilt meistens auch von 'uns Todten', wenn wir 'erwachen', d. i. wenn wir einmal Menschen sein möchten. Meistens! Es gehört sehr viel Geschmack und Stilgefühl dazu, da nicht zu outriren, sich nicht zu verzerren. Na, Stil ... es weiß eben nicht Jeder, was das ist: nicht einmal alle Mitarbeiter des Börsenblattes für den deutschen Buchhandel. Ehrlich: (und Du weißt das ja auch) Du machst mich nervös, wenn Du Fasching spielst, und schon darum bin ich froh, daß der Fasching vorüber ist. Nervös machtest Du mich zum Beispiel (und augenscheinlich nicht nur mich) durch das blöde Gekreisch, mit dem Du gestern im Café L[uitpold] Paul Ehrenberg empfingst. Es ist dumm und roh, zu glauben, daß dies, selbst in der Fastnacht, die richtige Art ist, ihm zu begegnen. Dir kann es ja gleichgültig sein, was er von Dir denkt, da hast Du Recht. Ich fürchte nur, daß er manchmal nicht weiß, was uns - Dich und mich - eigentlich verbindet.

Nichts für ungut übrigens! Wir haben schließlich Aschermittwoch. Und damit, daß am Sonntag der Carneval bei meiner Schwester [Julia Löhr] noch ein kleines Nachspiel haben soll, bin ich durchaus einverstanden [...]". Kl. Ein- und -ausrisse (ohne Textverlust).

Nach Grautoffs Tod im Pariser Exil erwarb der Verleger Kurt Leo Maschler (1898-1986) die Korrespondenzsammlung von dessen Witwe Erna Grautoff. Nach Maschlers Flucht aus Österreich 1938 wurde der zurückgelassene Bestand von der Gestapo der ÖNB überstellt und von dieser in deren Autographensammlung einsigniert (am unteren Rand die ÖNB-Signatur von 1939: Autogr. 141/58-65). 1949 wurde die Sammlung an Maschler rückgestellt (vgl. ÖNB, Allg. Verwaltungs- u. Korrespondenzakten 00/1949 A); erworben aus dem Nachlaß Maschler.

References

T. Mann, Briefe an Otto Grautoff 1894-1901 und Ida Boy-Ed 1903-1928, hg. von Peter de Mendelssohn (Frankfurt a. M. 1975), S. 133f. Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Bd. I. Briefe 1889-1933, bearb. und hg. von Hans Bürgin u. a. (Frankfurt a. M. 1976) 01/12. T. Mann, Große Frankfurter Ausgabe, Briefe I (1889-1913) (Frankfurt a. M. 2002), S. 156f.

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